Altes Denken

                                 

Russland ist das größte Land des Planeten. Und dieses Land ist nicht wüst und leer. Überzogen von unendlichen Wäldern birgt es gigantische Rohstoffreserven. Es ist  maßgeblicher Exporteur von Erdgas und Erdöl, besitzt große Vorkommen von Uran, Nickel und Aluminium. Was ergäben sich für verlockende Perspektiven, wäre Wladimir Putin ein weitblickender und besonnener Präsident? Die aus dem Verkauf von Erdöl, Gas und anderen Bodenschätzen generierten Erlöse ließen sich in die Infrastruktur seines Landes stecken. Es wäre möglich, großzügig in Bildung zu investieren, die Forschung zu fördern und vor allen Dingen den freien Wettbewerb der Ideen zu unterstützen. Die Russen, bekanntlich ein Volk mit einer großen Zahl von Intellektuellen und Künstlern, würden es ihm danken. Wer zweifelt daran, dass sie zumindest mittelfristig das Potential hätten, zu den technisch fortschrittlichsten Nationen aufschließen zu können, um dann endlich auch vom Verkauf fossiler Brennstoffe unabhängig zu werden. Deren schrittweiser Niedergang wird wohl nicht mehr lange auf sich warten lassen. Doch ein solches Szenario, das ist ein Traum.

Ganz offensichtlich leidet Russland an einem weit verbreiteten Fluch. Für die intellektuelle Entwicklung eines Landes ist es selten von Vorteil, großzügig mit Bodenschätzen gesegnet zu sein.  Man betrachte Länder wie Venezuela, Nigeria, Angola oder eben auch Russland. Das aus dem Verkauf von Öl und Gas vergleichsweise mühelos erwirtschaftete Geld führt nicht zu allgemeinem Wohlstand. Im Gegenteil. Es gibt gewaltige Allokationen von Kapital in den Händen von Einzelnen, während der größte Teil der Bevölkerung vergleichsweise arm bleibt. 

Das russische Miliardärs-Oligopol ist in dieser Beziehung ikonisch: Eine Jettsetter-Gilde, die Fußballklubs aus der Portokasse bezahlt, in Luxusjachten, Privatjets und Hubschraubern um die Welt reist. In Sternerestaurants ist die “russische Wahl“ berüchtigt: Die linke Seite der Speisekarte wird mit der Hand abgedeckt. Gewählt wird einfach das Teuerste. Dass Putin mit seinem Himmelspalast am Schwarzen Meer selbst Teil dieses kleptokratischen Systems ist, ist traurig genug. Völlig irritierend aber ist, dass er, der bis dato als kühl planender Stratege galt, mit seinem Denken offenkundig im letzten Jahrhunderts hängen geblieben ist. Das wird für ihn selbst, vor allen Dingen aber das russische Volk einschneidende Konsequenzen haben. 

In früheren Zeiten der Industrialisierung mit ihrem enormen Bedarf an Eisenerz und fossilen Brennstoffen, hätte es von großem strategischen Wert sein können, sich ein rohstoffreiches Land wie die Ukraine einzuverleiben, das zudem noch die Kornkammer Europas ist. Aber die Zeiten haben sich geändert, selbst wenn Uran, Titan oder Mangan auch heute noch eine Rolle spielen. 

Bekanntlich gab es aber inzwischen eine Transformation von der Industrie- zur Wissensgesellschaft. Und in diesem Kontext macht testosterongetriebenes Territoritorialverhalten nur noch bedingt Sinn. 

Wenn sich Clanchef Arafat Abou-Chaker und “Kriegskünstler“ Bushido im Garten ihres gemeinsamen Anwesens in Kleinmachnow zu stattlicher Größe aufblasen und sich wegen des Verlaufs eines Zauns in die Haare bekommen und für immer überwerfen, kann man das augenzwinkernd als antiquiertes Männlichkeitsritual zur Kenntnis nehmen. An einen Staatenlenker des 21. Jahrhunderts legt man aber einen anderen Maßstab an. Und die führenden Industrienationen sind schließlich nicht mehr deshalb erfolgreich, weil sie besonders viel Eisenerz in einen Hochofen schippen. Entscheidend ist heute ein hoch entwickeltes Prozesswissen, das von herausragenden Spezialisten in komplexen Kommunikationsnetzen entwickelt wird.  Apple und Samsung bauen die besten Mobiltelefone, Google die effizienteste Suchmaschine und Taiwan Semiconductor ist weltweit führend bei der Herstellung hochpotenter Chips. Dieses Wissen steckt in den Köpfen der Menschen, die diese Hochtechnologie entwickeln und zur Marktreife bringen. Es lässt sich nicht mit den klassischen Mitteln der Krieges erobern. Würde Putin mit seiner Nationalgarde, die Kalaschnikows in den Händen, die Zentrale von Apple in Cupertino stürmen, dann würde er ein UFO-artiges, ringförmiges Gebäude erobern, aber nicht Apple. Und wenn China auf die Idee käme, in Taiwan einzumarschieren, dann können Sie eine buckelige Landmasse in Besitz nehmen, nicht aber das Know-How der Menschen, die dort arbeiten, wenn diese sich den Aggressoren verschließen. 

Vor diesem Hintergrund ist man beschämt, dass Putin in die Ukraine einmarschiert, obwohl er noch nicht einmal in der Lage ist, Russland mit seinem inhärenten Potential zur Blüte zu entwickeln. Der Gedanke ein “altes Reich“ wiederherstellen zu wollen, ist in unserer Zeit anachronistisch.

Warum erkennt Putin nicht die Zeichen der Zeit? Warum schafft er mit den vorhandenen finanziellen Mitteln nicht die Möglichkeit, ein konkurrenzfähiges technisches Know-How zu entwickeln? Die Köpfe sind ja da, nur kultivieren viele eher eine Genialität des Bösen. Seit Jahren terrorisieren russische Cyberterroristen den Planeten und versuchen alles und jedes zu manipulieren, inszenieren ein undurchsichtigen Ränkespiel, dessen Regeln, sollte es welche geben, wohl nur noch Putin und sein engster Beraterkreis verstehen.

Es ist anzunehmen, dass Putin ein anderer Plan im Kopf herumspukt, der nach seinem Dafürhalten geeignet wäre, die von ihm geschätzte Rolle des absolutistischen Herrschers mit den Erfordernissen einer modernen High-Tech-Nation zu verbinden. Dem Präsidenten muss klar sein, dass Russland gemessen an seinem Potential, sieht man von Waffen und Raketentechnik ab, in den meisten High-Tech-Gebieten gewöhnliche Mittelklasse ist. Gleichzeitig ist er sicher nicht so naiv, zu glauben, dass nach dem Einfall in die Ukraine die Handelsbeziehungen mit Russland und der Welt weiterlaufen werden wie bisher. Putin hat es schließlich in beindruckender Geschwindigkeit geschafft, sein Land zum Paria zu machen. 

Man darf mutmaßen, dass er dieses Risiko bewusst eingeht, weil er überzeugt ist,  ein As im Ärmel zu haben. Dieses As heißt China. Auch wenn es bis dato abgestritten wird: die Wahrscheinlichkeit, dass China wusste, dass Russland in der Ukraine einmarschiert, ist nicht gering. Die strategische Partnerschaft wird ja seit längerem betont. Und tatsächlich scheint diese strategische Partnerschaft von China und Russland so etwas wie eine Hochzeit im Himmel zu sein. Russland liefert dem dynamischen China die begehrten Rohstoffe, damit wird das Land der Mitte unabhängiger von widerborstigen Ländern wie Australien. China stellt im Gegenzug die gewünschte Hochtechnologie zur Verfügung. Das klingt im ersten Moment verführerisch und scheint einer zwingenden Logik zu folgen. Doch es gibt ein paar versteckte Probleme: Für Russland könnte es sich als verheerend herausstellen, seine Rohstoffe nicht mehr auf einem globalen Markt verkaufen zu können. Denn ohne funktionierenden Markt gibt es auch keine marktüblichen Preisbildungsmechanismen. Damit liefert sich Russland China aus. Denn China kann seine Macht als Käufer missbrauchen, um die Preise zu diktieren und Russland zu erpressen. Es ist in einer komfortablen Situation, da Russland von China abhängiger ist als andersherum. Ein Mittel sich gegen eine solche Form der Erpressung zu wehren, hätte Russland nicht, wenn andere potente Käufer keine fossilen Energieträger des Usurpators kaufen würden.

Man darf in diesem geschlossnen Machtspiel nicht vergessen, dass Russland als potentieller Kunde chinesischer Technologie ein Leichtgewicht ist. Russlands gesammeltes Bruttoinlandsprodukt ist kleiner als das von Italien! Das lenkt nun die Aufmerksamkeit auf Chinas Strategie! Natürlich wären dem Reich der Mitte die Rohstoffe hochwillkommen, vor allen Dingen, wenn sie billig zu bekommen wären. Als Importeur chinesischer  Technologie wäre Russland aber nur zweite Liga. In dieser Beziehung ist China weiterhin auf den Zugang zum Weltmarkt angewiesen. Deshalb muss das Reich der Mitte peinlich darauf achten, nicht mit Russland in einen Topf geworfen zu werden und sich damit der Gefahr auszusetzen, in vergleichbarer Weise gebannt zu werden. Die Taktik wäre deshalb, sich opak zu machen und wie hinter einer Milchglasscheibe zu agieren. Doch das ist ein gefährliches Spiel. Geht die Taktik auf, bekommt China billige Rohstoffe, verkauft seine Technologie an Russland und den Rest der Welt. Das wäre das optimale Ergebnis. Es kann aber auch ganz anders laufen. Die potentiellen Verstrickungen werden sichtbar und ein sehr großer Wirtschaftsraum würde sich von China und Russland entkoppeln. Das hätte für beide Nationen gravierende Konsequenzen, da die Wirtschaft in China sowieso stottert und die russische wegen der harten Sanktionen mit Sicherheit in Kürze in die Knie gehen wird. 

Daraus ergibt sich als Handlungsempfehlung das Agieren von China ins helle Licht zu rücken, das Milchglas sozusagen transparent zu machen und in diesem Zusammenhang auch keine Angst vor wirtschaftlichen Konsequenzen zu haben. China wäre dann zu einer fundamentalen Abwägungsentscheidung gezwungen: Die Bande mit dem Aggressor Russland zu lockern oder gar zu lösen und damit seine potenten Absatzmärkte zu behalten oder Gefahr zu laufen diese zumindest in Teilen zu verlieren. Sollte China eine Entscheidung für seine Absatzmärkte treffen, hätte sich Putin in seinen strategischen Überlegungen verkalkuliert. In alter Manier Territorium zu okkupieren anstatt das vorhandene Potential der Menschen in seinem Land zu fördern, könnte sich als Bumerang erweisen. Russland wäre als Opfer dieser Strategie nicht nur technologisch isoliert, zumindest mittelfristig würde es auch deutlich weniger Devisen durch den Verkauf seiner Rohstoffe erwirtschaften. Für das russische Volk ist das eine düstere Perspektive. Bleibt abzuwarten, was die dann entstehenden innenpolitischen Spannungen für Putin bedeuten werden.

Den auf dem Photo zu sehenden Schädel hat der Figurenspieler Frank Söhnle gebaut