Debattenkultur

Die Kunst, in einer auch mit harten Bandagen geführten Diskussion nach konsensfähigen Lösungen zu suchen, scheint verloren zu gehen. Das Argument liegt auf dem Sterbebett. Dafür steht die gefühlige Meinungsäußerung hoch im Kurs. Das ist eine gefährliche Form von Komplexitätsverweigerung, die die Demokratie bedroht.                   


Der Hörsaal 21 im Kupferbau der Tübinger Eberhard-Karls-Universität glich einem Matratzenlager. Da, wo die Professoren normaler Weise ihre Runden drehen und ihren Studenten komplizierte Sachverhalte erklären, hatten Besetzerinnen und Besetzer im Dezember 2018 ihre Schlafsäcke ausgerollt. Es sah gemütlich aus. In Bierflaschen steckten Rosen. Es duftete nach frischem Kaffee. Das Ganze hatte etwas von einer Skifreizeit. Aber die Studenten waren nicht zum Spaß da. Man kämpfte gegen das Cyber Valley – einen Forschungsverbund zur Förderung der Künstlichen Intelligenz. Dieser besteht aus verschiedenen Universitätsinstituten der Städte Tübingen und Stuttgart. Im Boot sind auch potente Industriepartner wie Bosch, Porsche, BMW, Daimler, ZF-Friedrichshafen und Amazon.

Worum ging es den Besetzern? Das war gar nicht so einfach herauszubekommen. Sie gaben sich ziemlich konspirativ, legten sich Tarnnamen zu und verschwiegen, wer sie waren. Als eine Reporterin des Schwäbischen Tagblatts einen Bericht über die Besetzung machen wollte, saß ein Student demonstrativ mit einem Sturzhelm auf dem Kopf im Hörsaal, um anonym zu bleiben. Die Angebote der KI-Forscher miteinander ins Gespräch zu kommen, wurden lange abgelehnt. Man fühlte sich fachlich noch nicht gewappnet. Obwohl sich die Universitätsleitung tolerant zeigte und duldete, dass der Vorlesungsbetrieb gestört wurde, kam man mit den Studenten nicht richtig ins Gespräch. Doch manchmal wurden nach zäher basisdemokratischer Entscheidungsfindung Mitteilungsblätter veröffentlicht, auch auf einer Website gab es ab und an etwas zu lesen. So schälten sich langsam verschiedene Themenfelder aus dem Nebel: Man befürchtete, dass KI aus dem Cyber Valley für Waffensysteme oder Überwachung missbraucht werden könnte. Es wurde abgelehnt, dass Automobilfirmen wie Daimler, BMW und Porsche die Entwicklung von KI forcieren, da diese für den Klimawandel mitverantwortlich sind. Man war gegen Konkurrenz- und Leistungsdenken sowie die sich auftuende Schere von Arm und Reich. Der Firma Amazon mit ihren antidemokratischen Strukturen und prekären Arbeitsbedingungen, dürfte in Tübingen unter keinen Umständen ein Grundstück verkauft werden. Außerdem befürchtete man, dass in Tübingen der angespannte Wohnungsmarkt durch den Zuzug gut bezahlter High-Potentials außer Kontrolle geraten könnte. Deshalb pochte man auf die Förderung des sozialen Wohnungsbaus und forderte eine Stadt für Alle. Außerdem setzte man sich für die Demokratisierung der Universitäten ein. Besagte Reporterin des Schwäbischen Tagblatts, die sich redlich bemühte, die Stoßrichtung des Protests zu ermitteln, stellte etwas konsterniert fest: “Es sind viele Proteststimmen, die sich hier im Kupferbau vermischen.“

Endlich, ziemlich genau 3 Wochen nachdem der Hörsaal besetzt worden war, kam es dann zur lange erwarteten Diskussionsveranstaltung. Die Studenten, die sich argumentative Verstärkung von außerhalb besorgt hatten, trafen auf die Computerspezialisten. Am wenigsten wurde über Künstliche Intelligenz gesprochen, dafür aber um so mehr über spekulative gesellschaftliche Konsequenzen der KI-Forschung, den klandestin-verschachtelten Rüstungskomplex sowie die Verquickung von Grundlagenforschung mit herrschenden kapitalistischen Strukturen. Einen Lacher gab es, als sich herausstellte, dass die Demonstranten ausgerechnet die Datenkrake Facebook benutzten, um ihren Protest zu organisieren. Es bleibt zu hoffen, dass künftige Diskussionen über Chancen und Risiken Künstlicher Intelligenz näher am Thema bleiben und weniger als Vehikel verwendet werden, um weltanschauliche Voreingenommenheiten zu transportieren. 

Aber immerhin, das muss betont werden, wurde über ein wichtiges Thema wenigstens gesprochen. Das ist im Vergleich zu den Usancen, die sich an einigen anderen deutschen Universitäten zu etablieren drohen, keine Selbstverständlichkeit. Es gibt nämlich mittlerweile eine Menge Beispiele, die belegen, dass die im Grundgesetz festgeschriebene Meinungsfreiheit und die Freiheit von Wissenschaft und Kunst, in Gefahr sind. Es häufen sich die Ereignisse, in denen Redner und Dozierende an den Universitäten nicht nur niedergeschrien und mit Gegenständen beworfen werden. Sie werden auch bedroht, im Internet denunziert und verleumdet. Außerdem bemühen sich bestimmte Kreise systematisch Diskussionsveranstaltungen zu verhindern. Der Diskursraum selbst wird also zur Disposition gestellt. In all diesen Fällen sollen Andersdenkende mundtot gemacht werden, weil ihre Standpunkte Randalierern und diskursiven Heckenschützen nicht in den Kram passen.

Die Ethnologin Susanne Schröter doziert an der Frankfurter Johann Wolfgang Goethe-Universität und ist die Direktorin des dortigen Forschungszentrums Globaler Islam. Frau Schröter beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem Islam und ist von Religion und Kultur fasziniert. Das hindert sie nicht daran, zu differenzieren und pointiert Stellung zu beziehen. So warnt sie schon länger vor einem politischen Islam. Ihr ist es zum Beispiel ein Dorn im Auge, dass der türkische Präsident Tayyip Erdogan mittels der Organisation Ditib versucht, in Deutschland religiösen Einfluss zu nehmen. 

Ins Fadenkreuz geriet Susanne Schröter, als sie es wagte, die sexuellen Übergriffe in der Silversternacht 2015 auf der Kölner Domplatte nicht als Ausdruck einer überall in gleichem Maße verbreiteten toxischen Maskulinität zur Kenntnis zu nehmen sondern einen Zusammenhang herstellte mit patriarchalischen Deutungsmustern junger arabischer Flüchtlinge, die das sexuelle Selbstbestimmungsrecht von Frauen missachten. Tatsächlich waren Übergriffe wie in Köln, bei denen Gruppen von jungen Männern Frauen sexuell gemeinsam belästigten, in dieser Form vor 2015 in Deutschland so gut wie unbekannt. Danach kamen sie immer wieder vor. Diese Einschätzung brachte Susanne Schröter jedoch in Konflikt mit einer besonderen Spielart des Feminismus. Deren Protagonistinnen vertreten die Auffassung, dass Gewalt gegen Frauen ein generelles Phänomen ist. Einigen jungen Arabern in Deutschland ein besonderes Verhaltensmuster zu unterstellen, halten sie für rassistisch.

Während Frau Schröter sich mit ihren offenen Worten bei vielen Respekt verschafft hatte, war sie anderen verdächtig geworden. Als sie dann 2019 in Frankfurt eine Konferenz zum Thema “Das islamische Kopftuch, Symbol der Würde oder der Unterdrückung?“ veranstalten wollte, kam es zum Eklat. Anonyme Hetzer versuchten die Veranstaltung im Vorfeld zu unterbinden und setzten Susanne Schröter in den sozialen Medien massiv unter Druck. Außerdem gab es einen Hashtag “#schroeter_raus“. Mit diesem wurde das Ziel verfolgt, die Professorin aus der Universität zu schmeißen. Die Begründung? Erneut wurde Frau Schröter antimuslimischer Rassismus unterstellt. Das klingt sonderlich: Für das Podium waren sowohl Befürworterinnen als auch Gegnerinnen des Kopftuchs geladen. Die Randalierer hätten das Plenum aber lieber nach ihren eigenen Vorstellungen besetzt. Da stellt sich die Frage, warum sie nicht ihre eigene Veranstaltung organisieren? 

Susanne Schröter gab zu, dass es sie persönlich belastete, so “mit Dreck beschmissen zu werden“. Sie hatte allerdings Glück, dass ihr eine resolute Universitätsleitung den Rücken stärkte. Die Präsidentin der Johann Wolfgang Goethe-Universität Brigitta Wolf brachte den Skandal auf den Punkt: “Das Präsidium … sieht seine Aufgabe darin, für die Wissenschaftsfreiheit einzutreten und ist keine “Diskurspolizei“. Sie fuhr fort: “Wenn anonyme Gruppen einzelne Forschende diskreditieren oder gar bedrohen sollten (…) agieren sie aus der Anonymität heraus und sind damit gerade nicht bereit, in den universitären Diskurs einzutreten; sie bedienen sich einer wissenschaftsfernen, herabwürdigenden Rhetorik mit verunglimpfenden Zuschreibungen, die das Gegenüber als Wissenschaftler und Person herabsetzen.“

Angriffe auf die Wissenschaftsfreiheit kommen aber auch von anderer Seite. In Tübingen sorgte 2018 ein Vortrag am Politikwissenschaftlichen Institut für Aufregung. Organisiert wurde die Veranstaltung vom Lehrstuhl “Vorderer Orient und vergleichende Politikwissenschaft“. Als Redner war der israelische Historiker Ilan Pappé eingeladen. Pappé ist Direktor des Europäischen Zentrums für Palästina-Forschung an der Universität Exeter. Er studierte an der Hebrew University in Jerusalem und promovierte in Oxford. Sein Vortrag lautete “70 Jahre Nakba“. Das Wort “Nakba“ bedeutet im arabischen Sprachgebrauch Unglück oder Katastrophe. Es bezieht sich auf die Flucht und Vertreibung von 700 000 arabischen Palästinensern aus dem früheren britischen Mandatsgebiet Palästina, das dann in Teilen am 14. Mai 1948 zum Staat Israel ernannt wurde. Ilan Pappé ist der Überzeugung, dass es bei diesem Exodus zu ethnischen Säuberungen gekommen ist, ein Standpunkt, der nicht die Zustimmung des Staates Israel findet. In der Gemeinschaft der Forscher gibt es zu der Vertreibung der Palästinenser allerdings unterschiedliche Ansichten. Das Spektrum changiert von Völkermord bis zum freiwilligen Auszug der Menschen. Mit einem Wort: die Auslegung des historischen Ereignisses ist kontrovers. Um so erstaunlicher ist deshalb die Tatsache, dass die Leitung der Universität Tübingen einen Brief von der Generalkonsulin Israels für Süddeutschland, Sandra Simovich, bekam. In dem Brief forderte die Konsulin, den Vortrag abzusagen. In einem Gespräch mit der Presse bezeichnete Frau Simovich Ilan Pappé als Post-Zionisten, der einseitig argumentiere, sodass die Gefahr bestünde, dass die Komplexität des Themas nicht genügend gewürdigt würde. Der Rektor der Tübinger Universität Bernd Engler vertrat die Meinung, dass die anwesenden Akademiker in der Lage wären, sich selbst ein Bild zu machen und der Institutsleiter Oliver Schlumberger konstatierte, dass Debatten davon leben, dass debattiert wird. Die Veranstaltung fand statt und verlief ohne Zwischenfälle.

Eine entschlossene Universitätsleitung kann also Angriffe auf die Wissenschaftsfreiheit parieren. Was es für Konsequenzen hat, wenn sie die Wissenschaftsfreiheit nicht energisch verteidigt, war im letzen Jahr an der Universität Hamburg zu beobachten. Dort wurde die Öffentlichkeit Zeuge, wie Bernd Lucke, der ehemalige Gründer der AFD, Europaparlamentarier und Professor für Makroökonomie in Hamburg, Opfer randalierender Studenten wurde, als er seine Vorlesungen an der Universität wieder aufnehmen wollte. Lucke wurde von mehr als 300 Leuten niedergebrüllt, mit Gegenständen beworfen und angerempelt. Jeder Interessierte kann sich im Internet ein Bild von den Vorgängen machen. Die Störer schrieen im Chor “Verpiss Dich, hau ab“ und “Nazi-Schweine raus aus der Uni“. Luckes Vorlesungen gingen im provozierten Chaos unter. Die ersten Stellungnahmen des Präsidenten Dieter Lenzen und der damaligen Wissenschaftssenatorin Katharina Fegeband unterschieden sich in Inhalt und Duktus deutlich von den Worten Brigitta Wolfs. In einer Notiz vom 16. Oktober 2019 vertraten sie die Ansicht, dass diese Form des Tumults ein statthaftes Element des wissenschaftlichen Diskurses sei und deshalb von Bernd Lucke akzeptiert und ausgehalten werden müsse. Erst nach geharnischtem öffentlichen Protest ruderten sie zurück. Die dritte Vorlesung von Lucke fand dann unter Polizeischutz statt. 

Es hilft, den Fall Lucke etwas differenzierter zu betrachten und ihn nicht nur als den Gründer einer Partei zu sehen, die heute in Teilen an den äußeren rechten Rand driftet. Bernd Lucke initiierte mehrere Aufrufe von Wirtschaftswissenschaftlern, etwa den Hamburger Appell von 2005, der von über 200 Ökonomen unterzeichnet wurde, um die damalige deutsche Wachstumsschwäche in den Griff zu bekommen.  Außerdem wurde er bekannt, weil er zusammen mit vielen Ökonomen wie etwa Roland Vaubel oder Hans-Werner Sinn der Europäischen Zentralbank rechtswidrige monetäre Staatsfinanzierung vorwarf. Das brachte ihm den Ruf ein, ein “Europafeind“ zu sein. Das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts lässt seinen Standpunkt allerdings in einem anderen Licht erscheinen. Bleibt hinzuzufügen, dass Lucke die AFD verlassen hat, weil sie ihm zu rassistisch wurde. Das hat er mehrfach betont. 

Man kann Bernd Lucke also als liberal-konservativen Politiker bezeichnen. Mit dem Begriff “Nazischwein“ sollte man dagegen vorsichtig umgehen. Auch wenn man seine politischen und ökonomischen Überzeugungen nicht teilt, verboten sind sie definitiv nicht. Interessant klingen in diesem Zusammenhang die Worte des Hamburger ASTA-Vorsitzenden Karim Kuropka, der die Kundgebungen mit dem Motto “Lucke lahm legen“ organisiert hat.  Er kritisierte in einem Interview: “Bernd Lucke vertritt als Wirtschaftswissenschaftler ein Modell, welches einen schlanken Staat, des weiteren den Abbau der Sozialsysteme und noch freiere Märkte fordert“. An anderer Stelle bemängelte er Luckes Eintreten für einen Staat, der sich nicht verschuldet. Die sogenannte schwarze Null lehnt Kuropka ab.

Sind das Gründe, die es rechtfertigen, einem Gelehrten öffentlich den Mund zu verbieten? Wie würde sich Kuropka wohl zu dem folgenden Zitat stellen:“ Ich bin erschrocken, wie übermächtig der Ruf nach kollektiver Sicherheit im sozialen Bereich erschallte. Falls diese Sucht weiter um sich greift, schlittern wir in eine gesellschaftliche Ordnung, in der jeder die Hand in der Tasche des anderen hat.“ Das sind Worte aus einer Rundfunkansprache von Ludwig Erhard aus dem Jahre 1958. Der Vater des deutschen Wirtschaftswunders war Freund eines schlanken Staats, nicht überbordender Sozialsysteme und freier Märkte unter der Ordnung des Staates. Hätte Ludwig Erhard heute an der Universität Hamburg noch die Möglichkeit, frei zu sprechen?

Man könnte nun an dieser Stelle noch ausführlich über das traurige Beispiel der Humboldt-Universität Berlin sprechen. Die Skandale um den Historiker Jörg Baberowski, den Politologen Winfried Münkler, den Soziologen Ruud Koopmans oder den Erziehungswissenschaftler Malte Brinkmann füllen Bände, wurden öffentlich ausgiebig diskutiert und belegen, dass es Politik und Hochschulleitung in Berlin schon länger nicht mehr gelingt, anonymes Denunziantentum und Beleidigungen an der Hochschule zu unterbinden und damit zu einer akademischen Streitkultur zurückzufinden, die einer Universität würdig ist. Was ist da los? Wie kann es solchen Diskursverweigerungen kommen?

Eine Ursache ist offensichtlich ein wenig reflektierter Hochmut. Es wird ja unausgesprochen unterstellt, dass der eigene Standpunkt moralisch überlegen ist. Und daraus wird die Berechtigung abgeleitet, dem anderen seine Meinung zu verbieten. Diese bedenkliche Entwicklung ist für eine demokratische Gesellschaft gefährlich und muss unterbunden werden! Eine an den Idealen der Aufklärung orientierte Diskurskultur wird in einem solchen Umfeld zunehmend schwierig, teilweise sogar unmöglich. 

Es sei auch darauf hingewiesen, dass die moralische Überheblichkeit an einem Begründungsparadoxon krankt. Derjenige, der den Meinungsaustausch unterminiert, der beleidigt und denunziert, implementiert eine Hierarchie. Oben steht man selbst, der Gute, der moralisch Unverdächtige, unten der andere, der Verwerfliche, dem man mit gutem Gewissen das Wort verbieten darf. So wird die Diskussion unmöglich gemacht. Aber genau eine solche wäre notwendig, um das eigene Verhalten zu rechtfertigen. Die Tatsache, dass man sich zum Richter aufschwingt bedarf der Begründung, die aber nur auf der Grundlage einer Diskussion zustande kommen könnte, die man verweigert. 

Als Leitlinie für das hohe Gut der freien Meinungsäußerung besonders an den Universitäten, mag eine Aussage des Komparatisten Hans Ulrich Gumbrecht stehen, der bis vor wenigen Jahren an der Stanford University gelehrt hat. Gumbrecht sagte sinngemäß, dass die Universität ein Kloster für gefährliche Gedanken sei. Das bedeutet, dass Universitäten Schutzräume auch für kontroverse Gedanken schaffen müssen. In diesem Zusammenhang ist jeder begründete Standpunkt wert, diskutiert zu werden, solange er nicht mit der Verfassung in Konflikt gerät. In solchen Diskursen, die gerne auch mit harten Bandagen geführt werden dürfen, sollte es allerdings um Argumente gehen und nicht darum, welche Einstellung man dem Diskutanten unterstellt und ob sie einem persönlich genehm ist. Es muss im intellektuellen Freiraum egal sein, ob Diskutanten Linke oder Rechte sind oder der bürgerlichen Mitte angehören. Die Religionszugehörigkeit darf genauso wenig eine Rolle spielen wie die Ethnie, von der Hautfarbe gar nicht zu sprechen. Aber genau diese Freiheit ist in Gefahr. Die Universität ist heute immer seltener ein Kloster für gefährliche Gedanken, eher ist es gefährlich, seine Gedanken frei in ihren Mauern zu äußern. Damit liegt eine der wichtigsten Errungenschaft der Neuzeit auf dem Richtklotz: die Trennung des Arguments von der Person des Sprechers. Das Argument steht im Mittelpunkt einer an den Werten der Aufklärung gemessenen Diskurskultur. Wenn aber das moralische Urteil das Argument verdrängt, hat das gravierende Folgen: Der Prozess der Wahrheitsfindung selbst wird unmöglich gemacht. 

Ist es zum Beispiel richtig, dass ein Argument zwangsläufig falsch ist, weil es von einer missliebigen Vertreterin der AFD geäußert wird? Oder muss alles, was ein in der Wolle gefärbter Linker sagt, von einem orthodoxen Wirtschaftswissenschaftler automatisch für Nonsense gehalten werden? Man mache sich klar, welche Folgen diese Art zu denken und zu urteilen hat! Es kann in dieser verqueren Logik angezeigt sein, ein richtiges und damit zielführendes Argument kategorisch abzulehnen, weil man sich nicht mit der moralischen Einstellung gemein machen möchte, die dem Diskutanten unterstellt wird. Der Bückling vor der Moral ist allerdings selbst amoralisch. Man versündigt sich am Ideal der Wahrheitsfindung und unterstützt im schlimmsten Fall die Lüge. Das kann sich eine demokratische Gesellschaft, die in Gegenwart und Zukunft extrem schwierige Probleme lösen muss, nicht leisten.

Es stellt sich deshalb die Frage, wie es selbst an den Universitäten salonfähig werden konnte, argumentative Strategien durch simple moralische Urteile zu ersetzen? Tatsächlich ist es wesentlich einfacher, einen opportunen moralischen Standpunkt einzunehmen, als sich in einer komplexen Thematik eine begründete Meinung zu erarbeiten und diese dezidiert und sachlich zu vertreten. Die scheinbar angemessene Moral entwickelt in diesem Zusammenhang eine narkotisierende Kraft, wird zu einer betäubenden Erklärungsillusion, die blind macht für sachliche Erkenntnisdefizite. Es ist angenehm, in sich den Glauben zu nähren, das richtige Weltbild zu kultivieren, dieses in medialen Echokammern mit Gleichgesinnten zu teilen und zu verstärken, auch wenn es mit den zu lösenden Problemen wenig bis gar nichts zu tun hat.

Damit gehen Randalierer, Chaoten, Denunzianten und deren Sympathisanten einfach den Weg des geringsten “intellektuellen Widerstands“.  Aber gerade bei den Themen, die heute auf der Agenda stehen, wäre das Gegenteil von Nöten. In seinem Kern ist die beobachtete Diskursverweigerung nämlich nichts anderes als eine Komplexitätsverweigerung. Leider haben in Deutschland bestimmte Denk- und Diskursverbote bedingt durch  traumatische Weltkriegserfahrungen eine gewisse Tradition. Lange waren kritische Stimmen zum Judentum sakrosant, genauso wie jeder seine akademische Karriere riskierte, der es wagte, das Grauen des Holocaust etwa mit dem Holodomor Stalins oder Maos großen Sprung in einen Zusammenhang zu denken. 

Doch trotz dieses schweren Erbes dürfen wir uns eine moralisierende Diskursverweigerung bei den drängenden Problemen unserer Zeit nicht leisten! Diese Probleme lösen sich nicht dadurch, dass man den Diskurs beendet, bevor er begonnen hat, wobei die immergleichen, kurzsichtigen Strategien verwendet werden. Andersdenkenden wird ein Siegel aufdrückt, anstatt sich mit ihren Standpunkten auseinanderzusetzen, um sie dann schnell in einer Schublade verschwinden zu lassen: 

Menschen, die die Europapolitik der Regierung kritisieren, werden als Europafeinde abgekanzelt. Wissenschaftler, die die Verlässlichkeit von Klimaprognosen thematisieren, bezeichnet man als Klimaleugner. Widersprechen Bürger der Auffassung, dass staatlich geförderte Windräder und Solarpanele die geeigneten Mittel sind, das Klima zu retten, schimpft man sie Klimagegner. Wer es wagt, die lange ungesteuerte Migration zu thematisieren und wie Ruud Koopmans darauf hinweist, dass sich verschiedene Volksgruppen unterschiedlich gut in Deutschland integrieren, wird zum Rechtskonservativen oder gleich zum Rassisten gemacht. Wissenschaftler, die in der Grundlagenforschung mit Tieren arbeiten, darf man ungestraft als Tiermörder bezeichnen. Leute, die nicht glauben wollen, dass Geschlechter eine gesellschaftliche Konstruktion sind und deshalb Gender heißen müssen, sind im harmlosen Fall Biologisten sonst Sexisten. Und manchmal reicht es, ein ganz normaler älterer Mann zu sein, der das Pech hat, eine weiße Hautfarbe zu haben, um zum Gegenstand von Verachtung und Zorn zu werden. 

Europafeind, Klimaleugner, Klimagegner, Rassist, Tiermörder, Sexist. Wie kommt man aus diesem Schubladendenken heraus? Indem man Europapolitik, Klimawandel, Migration, Grundlagenforschung, Entwicklung persönlicher Identität, als das begreift, was sie sind: als grenzwertig komplexe Themenfelder, die selbst Spezialisten an ihre Grenzen bringen und keine Simplifizierung im Stile eines Karim Kuropkas vertragen. 

So ist die Ökologie, um ein nur Beispiel zu nennen, weniger eine gefällige Gesinnung als eine harte Naturwissenschaft. Sie hat verwickelte Stoffkreisläufe zum Gegenstand, klimatische Entwicklungen, sie bedingt ökonomische Entwicklungen und wird selbst von ökonomischen Entwicklungen beeinflusst. Wenn man dem Gegenstand gerecht werden will, muss man viel von Physik und Biologie verstehen, auch von Soziologie und Politik und natürlich von der Ökonomie. Denn die Gretchenfrage, von deren Beantwortung unsere Zukunft abhängt, lautet: Wie ist es möglich, mit zwangsläufig beschränkten finanziellen Mitteln, global den größtmöglichen ökologischen Nutzen zu generieren? Das ist eine sehr schwierige Frage. 

Hört man aber den Volksvertretern zu, die auch bei ökologischen Fragestellungen die Weichen stellen, dann ist deren Expertise in diesem Zusammenhang bisweilen ernüchternd. Deutschlands größter Volkspartei gelingt es nicht, die frechen Angriffe eines Youtubers mit blauen Haaren zu parieren, der ihr ökologischen Dilettantismus vorwirft und sie mit diesem Unvermögen zum Gegenstand des Spotts macht. Und die Führungsfiguren der Partei, die sich den Umweltschutz auf die Fahnen geschrieben hat, beherrschen noch nicht einmal das ökologische ABC. Da wird Kobalt mit Kobold verwechselt und das 2-Gradziel der Temperaturerwärmung wird zum 2%-Ziel. Bei Politikern, die so wenig sattelfest sind, hat man sich daran gewöhnt, dass die wenigsten die in der Ökologie wichtigen physikalischen Termini Energie und Leistung auseinanderhalten können. Wenn dann aber von einem grünen Spitzenpolitiker Gigawatt – ein Maß für die physikalische Leistung  –  mit Gigabytes – einem Informationsmaß – verwechselt werden, ist das das nicht mehr lustig. 

Aber wahrscheinlich ist es zuviel verlangt, diese Expertise von jedem Politiker einzufordern. Und damit sind wir wieder bei den Universitäten. Diskursverweigerung ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, dass sich auf die Universitäten auszudehnen droht. Damit laufen wir jedoch Gefahr, dass die letzten Bastionen des Freidenkertums geschliffen werden. Doch diese müssen unter allen Umständen als Schutzräume für kreative, an der Sache orientierte Denkprozesse erhalten bleiben! Diese brauchen wir, um komplizierte Probleme ohne ideologische Scheuklappen lösen zu können.

In Tübingen kam es immerhin zu einem Gespräch, über dessen Notwendigkeit kein Zweifel besteht. Das war ein Anfang. Wenn dann noch qualifiziert über das eigentliche Thema – in diesem Fall künstliche Intelligenz –  ohne weltanschauliche Vorurteile debattiert werden könnte, wäre ein weiterer wichtiger Schritt getan. Die Zukunft gehört damit unvoreingenommenen Diskursen mit offenem Visier. Helme auf dem Kopf bringen uns nicht weiter.