Es ist das Verdienst der ökologischen Bewegung, den Umweltgedanken in unseren Köpfen verankert zu haben. Es ist das Drama der ökologischen Bewegung, dass sie just diesen Gedanken zu Grabe trägt. Eine Polemik.
von Marco Wehr
Als der Medizinprofessor Martin Bleif mit seiner kleinen Tochter auf dem Motorroller durch den Tübinger Fußgängertunnel fuhr, spuckte ihm ein Fahrradfahrer, der sich im Besitz der rechten Gesinnung wähnte, wütend ins Gesicht. Tatsächlich hatte sich der Arzt auch wissenden Auges über ein Verbot hinweggesetzt. Es war eine der ersten Amtshandlungen von Oberbürgermeister Palmer, vor dem Tunnel ein Verbotsschild zu befestigen, welches das bis dato funktionierende Miteinander von Fußgängern, Rad- und Mopedfahrern beendete. Letztere wurden als Stinker gebrandmarkt und verbannt. Vordergründig ging es um Ökologie. Doch das glaubte Bleif nicht. Er berechnete, dass ein Fußgänger, der lässig mit einer Zigarette in der Hand durch den Tunnel schlendert, die Luft stärker verpestet als ein Junge auf seinem Töfftöff. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass seit dem Verbot die Mopedfahrer kilometerlange Umwege fahren müssen und ihre Abgase vermehrt woanders in die Luft blasen.
Man muss also die Frage stellen, wie eine solche Respektlosigkeit zu “begründen“ ist. Gibt es neben dem ökologischen (Schein)argument noch andere? Der Lärm kann es nicht sein. Grölende Passanten und ewig dudelnde Straßenmusiker sind im Tunnel häufig anzutreffen. Auch die Geschwindigkeit scheidet aus, da geübte Kampfradler ein Mofa lässig überholen.
Damit sind wir beim zentralen Punkt: der rechten grünen Gesinnung. Das ist eine durch nichts zu erschütternden Einbildung, auf der richtigen Seite zu stehen, auch wenn die Fakten etwas anderes nahelegen. Menschen dieses Schlages kann man als Grünfühler bezeichnen. Sie wähnen sich grün, obwohl ihr Verhalten oft genug das Gegenteil von dem bewirkt, was sie zu bewirken vorgeben. Dabei paart sich die Blindheit für die Faktenlage mit einer verstörenden Selbstgefälligkeit. Sie erhebt den Grünfühler in den Rang zu loben, zu tadeln oder – wie das spuckende Lama im Tunnel – zu strafen. Zu allem Überfluss kommt zu diesen Charaktereigenschaften noch eine gewisse Doppelbödigkeit dazu. Bei sich selbst drückt man die Augen zu, die Knute ist für die anderen reserviert.
Denn: Welches Auto ist symbolisch für Tübingen? Der wendige Elektro-Smart? Nein. Hier pilotiert man gerne einen VW-Bus mit dem CW-Wert eines Panzers. Ökologische Signalwirkung hat dann aber der große Fahrradhalter am Heck. Und was sind des Tübingers liebste Reiseziele? Das Allgäu oder die Moselschleife? Weit gefehlt. Gemäß einer Silvesterumfrage des Tagblatts präferiert man hier ferne Wüsten oder tropische Atolle. Alles Orte, die sich bequem mit dem Liegefahrrad ansteuern lassen.
Maßnahmen, deren ökologischen Sinn man diskutieren muss, sind auch im öffentlichen Raum endemisch. Das fängt bei der Sperrung der Mühlstraße an. Es macht ja Sinn, 70 m in der Innenstadt zu schützen, um 7000 m Umgehungsstraßen zu belasten. Egal: Auf diesen Straßen bewegt man sich ökologisch korrekt. Sie gleichen einem Verkehrskindergarten: Überall blinken Smileys, um dem Autofahrer ein emotionales Feedback zu geben. Da wühlt man gerne im Getriebe und röhrt im zweiten Gang mit 30 durch die Straßen. Zur Belohnung gibt es ein grünes Lächeln. Nur die Unbelehrbaren werden kalt vom Blitz erwischt. Noch das kleinste Kaff nennt ein Arsenal von Blitzsäulen sein eigen, und die Dorfvorsteher wetteifern untereinander mit Anzahl und Größe, so wie es früher die Adelsgeschlechter der Toskana mit ihren Türmen machten. Das Problem? Trinken Sie in der Nachmittagssonne einen Most im Schwärzloch und bewundern Sie die Unterjesinger Schlange! Seit der Temporegulierung im Dorf gibt es einen kilometerlangen Rückstau bis nach Tübingen.
Aber der ist ökologisch korrekt. Die verqualmte Luft bleibt zwischen Tübingen und Unterjesingen gefangen und wird es nicht wagen, die Stadtgrenzen zu überschreiten. Das ist auch besser so, denn große Bäume, die helfen könnten, die Luft reinzuhalten, werden zumindest in Tübingen konsequent gefällt. Aber das sind Kleinigkeiten.
Eine ökologische Lichtgestalt wie Boris Palmer agiert in anderen Dimensionen. Große Teile der pittoresken Tübinger Altstadts mit schnöden Wärmedämmplatten kondomisieren? Kein Problem! Für Palmer wäre es auch denkbar, Windräder so hoch wie der Kölner Dom in der Nachbarschaft der idyllischen Wurmlinger Kapelle zu platzieren. Als Mann der Tat muss man Zeichen setzen und darf sich nicht durch Gefühligkeit verunsichern lassen. Was soll man dazu sagen? Bei Lichte besehen hat der Grünfühler die Einstellung des mittelalterlichen Flagellanten. Gerade der Schmerz, die nachhaltige Verschandelung von Städten und Landschaften, signalisiert, dass man es ernst meint und sich reuig einem höheren Ziele beugt. Was zählen da ästhetische Belanglosigkeiten?
Bleibt nur eine ketzerische Frage: Macht das alles ökologisch einen Sinn? Da sind Zweifel erlaubt. Autos, die hochtourig durch die Stadt kriechen, verbrauchen nicht zwangsläufig weniger Benzin, als solche, die ein bisschen schneller sind. Bei der Wärmedämmung eine Energieersparnis zu erzwingen und dabei Materialien zu verwenden, die als hochgiftiger Sondermüll deklariert werden, leuchtet auch nicht sofort ein. Zudem wäre wohl ein Brand in unserer Innenstadt ein rechtes Höllenfeuer. Die Dämmplatten, einmal in Flammen, lassen sich fast nicht mehr löschen. Und die hofierten Windräder? Sie sparen bis zum heutigen Tag kein CO2 ein. Die “gesparten“ Emissionen werden wegen des Europäischen-Emissions-Zertifikategesetz an anderer Stelle wieder in die Luft geblasen.
Wie kommt es zu solchen Fehleinschätzungen? Es ist eben die verführerische Kraft des rechten Gefühls, die fast jeden Unsinn möglich macht. Nicht grün handeln ist das Gebot der Stunde, sondern sich für grün zu halten. Was ist schließlich erhebender, als der Glaube, die Welt zu retten? Das ist ein Gefühl von narkotisierender Kraft. Vor diesem Hintergrund sieht man sich aber mit einem verstörenden Paradoxon konfrontiert: Es ist das Verdienst der ökologischen Bewegung den Umweltgedanken in unseren Köpfen verankert zu haben. Es ist das Drama der ökologischen Bewegung, dass sie just diesen Gedanken zu Grabe trägt. Dabei machen die Grünfühler so viele Denkfehler, dass man nicht weiß, wo man anfangen soll.
Ganz oben steht die Unfähigkeit, eine stringente ökologische Prioritätenliste anzulegen. Was ist primär auf der Agenda ökologischen Handels?! Die Vermeidung von CO2, das Aus der Atomkraft oder die Rettung von Fledermäusen, Zauneidechsen oder Juchtenkäfern? Wie ein kleines Kind möchte man eigentlich alles auf einmal haben. Doch leider sind etwa Arten- und Landschaftsschutz sowie der Ausbau regenerativer Energien nicht unabhängig voneinander zu verhandeln. Das eine geht auf Kosten des anderen. Entscheidungen ließen sich nur dann nachvollziehen, wenn begründet würde, weshalb das eine dringlicher ist als das andere. Aber bei den Grünfühlern ist irgendwie alles irgendwie wichtig. So lassen sich argumentative Eiertänze nicht vermeiden. Da wird wegen des Juchtenkäfers ein Milliardenprojekt wie Stuttgart 21 in Frage gestellt oder man angelt Zauneidechsen für 8600 Euro pro Tier mit Schlingen aus den Löchern. Doch dann einen Salto rückwärts! Eben waren die Tierchen noch im Fokus, jetzt herrscht Blindheit. Plötzlich sind es vertretbare Friktionsverluste, wenn Windräder Kulturlandschaften verschandeln, Greifvögelpopulationen ausradieren oder die sonst hofierten Fledermäuse zu Hackfleisch verarbeiten. Und wenn man das unsägliche Ökobenzin E 10 wider jeder Vernunft puschen will, spielt Artenvielfalt auch keine Rolle mehr. Raps, Raps, Raps, wohin das Auge blickt.
Neben der Unfähigkeit Prioritäten zu setzen, neigt der Grünfühler zur Pusemuckel-Politik. Das großspurige “Global denken, lokal handeln“ ist ein müdes Lippenbekenntnis. Schon der Zusammenhang des Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) mit dem Europäischen-Emissions-Zertifikategesetz ist dem Grünfühler schwer zu vermitteln. Es ist auch besser den Kopf in den Sand zu stecken: Die Reduktion von CO2 in der europäischen Union geht im Schneckentempo vorwärts, da sich die Gesetze gegenseitig aushebeln. Dabei ist zu wünschen, dass das Zertifikategesetz, das die Kreativität der Marktteilnehmer fördert, weiter ausgebaut wird, während das muffig-planwirtschaftliche EEG entschlackt werden muss.
Aber selbst der Fokus auf Europa ist zu eng. Klimaschutzpolitik ist ein globales Problem und kann auch nur global gelöst werden. Dazu gehört die Einsicht, dass ein Markt nicht nur eine Nachfrage- sondern auch eine Angebotsseite hat. Dabei haben die Länder, die fossile Brennstoffe verkaufen, naturgemäß andere Interessen als die, die versuchen die Nachfrage nach diesen zu vermindern. Gelänge es uns in der EU durch ausgiebiges Fahrradfahren den Verbrauch fossiler Brennstoffe zu reduzieren, sänke die Nachfrage. Hört sich gut an! Leider beeinflusst das den Preis. Öl, Kohle und Gas würden billiger. Das freut alle Länder, die von dem Wohlstand träumen, den wir schon lange haben. Die schlagen bei der billigen Energie sofort zu. Verfeuert werden die Klimakiller dann woanders. Und so nimmt die Atmosphäre auch im beschaulichen Tübingen Schaden, selbst wenn der Schlot in Burkina Faso steht. Und genau auf diese Weise werden die fossilen Brennstoff unweigerlich solange verfeuert, bis sie zu Neige gehen. Das ist aber der schlimmste Fall, den wir eigentlich vermeiden wollen. Gibt es Lösungen? Wenn man wüsste, wie die Luft zum Atmen, die von allen Menschen gemeinsam genutzt wird, mit einem Preis versehen werden könnte, den Verschmutzer rund um den Globus zu bezahlen hätten, wäre ein wichtiger Schritt getan. Eine kleine Chance gäbe es auch, wenn die Erzeugungskosten regenerativer Energien mit denen fossiler Energien konkurrieren könnten. Doch das ist ein ferner Traum. Leider sorgt gerade das patriarchalisch-besserwisserische EEG mit seinen tausend Sonderregelungen für das genaue Gegenteil. Da sich viele Windmüller und Sonnenkönige wegen der opulenten Einspeisegarantien lange Zeit die Wasserhähne vergolden konnten, war der Innovationsdruck, effizienter und klüger zu produzieren, in Deutschland nicht besonders ausgeprägt.
Zu guter Letzt weigert sich der Grünfühler beharrlich, Geld so einzusetzen, dass es der Umwelt optimal nutzt. Es wäre zum Beispiel ausgesprochen sinnvoll, die 500 Milliarden Euro, die die “Energiewende“ in etwa kostet, dort zu investieren, wo sie am effizientesten arbeiten würden. Alles andere ist ein Verrat an den ökologischen Notwendigkeiten. Dafür bräuchte man allerdings – siehe oben – eine klar definierte Prioritätenliste. Doch dieses Problem wird von den Grünen nicht einmal in Ansätzen diskutiert. Im Gegenteil: Die Paradoxphilosophie des Grünfühlers funktioniert exakt andersherum. Deshalb ist sie eine Gefahr für unsere Umwelt. Es gilt ja als Ausweis von Ernsthaftigkeit, das Geld mit beidem Händen zum Fenster rauszuschmeißen und sich um dessen ökologische Hebelwirkung nicht zu scheren. Man meint damit zu zeigen, dass einem für die Umwelt nichts zu teuer ist. Aus der verqueren Logik des Gefühls gedacht, ist das nachvollziehbar. Für unsere Umwelt ist eine solche “Denkweise“ ein Debakel.
Da ökologische Verwirrtheit skaleninvariant ist und deshalb in vergleichbarer Form beim einzelnen Menschen, in Familien, Dörfern, Städten Ländern und Kontinenten zu finden ist, landen wir zu guter Letzt wieder in Tübingen, neben Freiburg der Welthauptstadt der Grünfühler. 500 000 Euro lässt man sich hier die Verrücktheit kosten, die Ammer auf ein paar Meter vor dem Technischen Rathaus einseitig(!) zu renaturieren. Und damit jeder das grüne Projekt bewundern darf, ist dort fast der gesamte alte Baumbestand abgeholzt worden. Eine paradoxe Meisterleistung und leider mehr als eine lokalpolitische Schrulle. Diese Denke hat Methode und zwar zu unserer aller Schaden.