“Keine Kunst vermochte etwas, kein Kraut nützte, keine Medizin richtete etwas aus.“
“Die ganze Stadt war ein Grab.“
Mit diesen düsteren Worten kommentierte der Chronist Lorenzo de Monacis die Pest, die 1348 in Venedig wütete. Die nächsten dreihundert Jahre wurde die Serenissima im Schnitt alle zehn Jahre von der Seuche heimgesucht. Gerade die verheerenden Ausbrüche von 1576 und 1630 haben sich ins kollektive Gedächtnis der Bevölkerung eingegraben. Die Folgen waren desaströs. Bei den großen Ausbrüchen starb ein Drittel der Bevölkerung. Auf das heutige Deutschland übertragen, wären bei einem vergleichbaren Ausbruch über 25 Millionen Tote zu beklagen. Jede Familie würde im engen Kreis Verstorbene beweinen.
Die damalige Hilflosigkeit war unvorstellbar. Der Feind hatte kein Gesicht. Fast 5000 Jahre wütete die Pest schon und man hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie verursacht wurde. Üble Dünste standen im Verdacht. Oder ein sittenloses Leben, das einem rachsüchtigen Gott missfiel. Doch egal, ob man Kräuter verbrannte oder dem Herrn versprach, in Zukunft gottgefälliger zu leben, der Schnitter schwang unbarmherzig die Sense und vollbrachte sein grausames Werk.
Beindruckend war aber die Dankbarkeit der Menschen, nachdem sich die Seuche zurückgezogen hatte. Man spendete viel Geld, um zwei eindrucksvolle Kirchen zu bauen, die bis heute das Stadtbild von Venedig prägen: Il Redentore und Santa Maria della Salute. Die Bauzeit der architektonischen Meisterwerke dauerte Jahrzehnte. Dafür waren finanzielle Mittel notwendig, die in ihrer Höhe kaum mehr vorstellbar sind. Bis zum heutigen Tage gibt es Prozessionen, um der Toten zu gedenken.
Machen wir einen Zeitsprung in die Gegenwart und nehmen die Coronapandemie in den Blick! Die ersten Kranken tauchten im Dezember 2019 im chinesischen Wuhan auf. Das Genom des Virus war schon wenige Wochen später sequenziert. Nur zwölf Monate später wurde die 90-jährige Maggi Keenan aus Coventry als Erste mit dem Impfstoff von BioNTech immunisiert. Im Moment sind in Deutschland über sechzig Prozent der Bürger mindestens einmal geimpft. Gestorben sind an Covid-19 etwa 92 000 Menschen. Setzt man die Zahl der Coronatoten in Deutschland in Beziehung zu der Anzahl der Pestopfer in Venedig, dann hatte die Lagunenstadt im Verhältnis etwa 30 000 mal mehr Tote zu beklagen als wir. Und es dauerte bei der Pest im Vergleich zu Corona 5000 mal länger, bis man sie heilen konnte.
Man könnte annehmen, dass das ein Grund zum Feiern ist. Eigentlich bestaunen wir einen unvergleichlichen Triumph der Wissenschaften. Doch niemand schickt sich an Forschern wie Ugur Sahin und seiner Frau Öslem Türeci, die das potente mRNA-Vakzin entwickelt haben, eine Kathedrale zu bauen und Dankbarkeit zu zeigen. Stattdessen wird die Existenz eines Impfstoffes von den meisten für eine Selbstverständlichkeit gehalten. Und über die Rückkehr der Freiheit freut man sich eher verhalten. Viele sind sogar verstimmt. Zulange musste man auf den geliebten Urlaub verzichten oder grämte sich, da man nicht das Café seiner Wahl besuchen konnte. Auch die Anwesenheit der Kinder zuhause war fordernd. Deutlich zeigen sich Verdruss und Krisen in der Tatsache, dass Plätze beim Psychologen nicht mehr zu bekommen sind. Alles ausgebucht, auf Monate.
Wenn es eines Beweises bedurfte, dass unser Weltbild auf den Prüfstand muss, dann liefert ihn unser Umgang mit der Coronapandemie. Wobei die Zeichen auch schon vorher unübersehbar waren. Im Vergleich zum 19. Jahrhundert hat sich unsere Lebenserwartung fast verdreifacht. Betritt man heute einen gewöhnlichen Supermarkt so übertrifft die dortige Auswahl an Früchten aus aller Welt, Fisch, Fleisch, Geflügel und Spezereien das, was man sich früher unter dem Paradies vorstellte. Die reichsten Fürsten und Könige der Geschichte hätten sich gedemütigt gefühlt, hätten sie die Möglichkeit gehabt, die Auswahl eines gewöhnlichen Supermarkts mit ihrer Festtafel zu vergleichen. Doch gemäß einer Umfrage kaufen die Menschen ausgesprochen ungern ein. Es ist Ihnen eine Last eine Kiwi aus Neuseeland, eine Ananas aus Nicaragua und ein saftiges Steak vom Rind aus der argentinischen Pampa in den Einkaufskorb zu legen. Lieber regt man sich auf, wenn die Litschis für den Salat vergriffen sind.
Was ist da los? Warum führen diese paradiesischen Zustände, von denen Menschen zu allen Zeiten geträumt haben, nicht zu paradiesischen Glücksgefühlen?
Eher scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Pfeifende, singende und lachende Menschen sind selten zu finden. Das passt zu einer Untersuchung aus Italien. Waren unsere liebenswerten Nachbarn einst das Paradebeispiel öffentlich zelebrierter Sangeskunst so hat sich auch jenseits der Alpen der Frohsinn in den Schmollwinkel verzogen. In den reicheren Vierteln Mailands schmettert niemand mehr ein Lied. Dazu muss man in den armen Süden fahren.
In den Industrieländern ist das Glück mit dem rapide gestiegenen Wohlstand nicht mitgewachsen. Stattdessen werden seelische Qualen zur Volkskrankheit. Gemäß einer großen Untersuchung der Barmer Ersatzkasse wird ein Viertel der 18- bis 25-Jährigen in Deutschland von Depressionen, Angstzuständen und Panikattacken gequält. Irgendwas läuft falsch. Warum wollen sich Glück und Zufriedenheit nicht einstellen, obwohl die äußeren Bedingungen so gut sind, wie noch nie in der gesamten Menschheitsgeschichte?
Um diesem eigenartigen Phänomen nachzuspüren, beginnen wir mit dem Begriff des Glücks selbst. Wenn man im Deutschen über Glück spricht, dann muss man zuerst eine Unterscheidung treffen. Glück hat bei uns zwei verschiedene Bedeutungen. Zum einen bezeichnet es den glücklichen Zufall. In der anderen Lesart ist ein Lebensgefühl gemeint.
Beginnen wir mit dem glücklichen Zufall. Dessen Gegenspieler ist das gefürchtete Pech. Glück und Pech sind in diesem Zusammenhang etwas anderes als Verdienst und Schuld. Glück hat man, wenn man im Lotto gewinnt. Pech, wenn einem der sprichwörtliche Blumentopf vom Balkon auf den Kopf fällt. Natürlich kann Pech für eine Weile zu Missmut führen. Dauerhaft gefährlich für die eigene Zufriedenheit werden Glück und Pech aber erst, wenn man sie konsequent als Erklärungsprinzip heranzieht, um die eigene Lebenssituation zu legitimieren. Es sei betont, dass sich die folgende Argumentation nicht auf Menschen bezieht, die Schicksalsschläge wie schwere Krankheit oder den Verlust eines geliebten Menschen erleiden mussten.
Was passiert, wenn man die eigene Unzufriedenheit immer dem Pech in die Schuhe schiebt? Wenn man beklagt, Pech mit den Eltern zu haben, mit den Lehrern und mit den Partnern? Wenn man lamentiert, nicht talentiert zu sein und mit seinem Aussehen hadert?
Man gibt das Heft aus der Hand und macht sich zum Spielball eines unberechenbaren Zufalls. Das hat Konsequenzen. Die verführerische Seite besteht darin, dass man die Verantwortung für die eigene Befindlichkeit an eine unbekannte Schicksalsmacht delegiert. Das ist bequem. Aber der Preis ist hoch. Statt selbst zu handeln, fühlt man sich behandelt. Das ist ein gedeihlicher Nährboden für depressive Verstimmungen. Schließlich behauptet man, hilflos zu sein. Schon Hunde reagieren auf solche Situationen mit Schwermut. Man verglich in einem Experiment zwei Gruppen von Tieren, die in verschiedenen Käfigen untergebracht waren. Über deren Boden konnte man ihnen einen leichten Stromschlag zuführen. In dem einen Käfig gab es jedoch eine Apparatur, mit der die Hunde den Strom ausschalten konnten, was sie schnell lernten. In dem andern Käfig gab es diesen Mechanismus nicht. Im nächsten Versuchsdurchgang wurden beide Käfige oben geöffnet. Außerdem wurden die Seitenwände soweit erniedrigt, dass die Hunde mühelos herausspringen konnten. Den Abschaltmechanismus gab es allerdings nicht mehr. Die Hunde, die gelernt hatten, mit ihren eigenen Handlungen etwas zu bewirken, sprangen aus dem Käfig. Die anderen legten sich auf den Boden und ertrugen ihr Schicksal. Dieses Phänomen bezeichnet man als erlernte Hilflosigkeit.
Ein weiteres interessantes Ergebnis stammt von der Psychologin Carolin Dweck. Zwei Studentengruppen absolvierten einen nicht zu schweren Test in Mathematik, den alle mit Erfolg absolvierten. Anschließend wurde die eine Gruppe überschwänglich für ihr Talent gelobt. Bei der anderen strich man ihren Fleiß und ihre Lernausdauer hervor.
Im zweiten Durchgang waren die Tests deutlich schwerer. Interessanter Weise gaben nun die, die man für ihren Fleiß gelobt hatte, nicht so schnell auf. Sie zeigten Biss und schrieben passable Ergebnisse. Die aber, die sich etwas auf ihr Talent einbildeten, schmissen die Flinte schnell ins Korn und scheiterten häufiger.
Die Erfahrung, auf der Grundlage eigener Kompetenzen seine Situation verändern zu können, verleiht also Flügel. Das weiß man auch aus der sogenannten Expertiseforschung. Menschen, die Dinge meisterlich können, sind vor allen Dingen die, die mit großer Ausdauer üben und den Mut haben, sich immer neuen Herausforderungen zu stellen. Das klappt am Besten, wenn man von einer Sache begeistert ist und deshalb eine hohe intrinsische Motivation hat. Entscheidend ist, nicht aufzugeben. Das vielgelobte Talent, der genetische Zufallsfaktor, spielt eine geringere Rolle als man allgemein denkt. So war Albert Einstein, der Inbegriff des Genies, kein wirklich brillanter Mathematiker. Er besaß aber einen Riecher für die richtigen Fragestellungen und eine bewundernswerte Zähigkeit, um jahrzehntelang zu arbeiten, bis er seinen Intuitionen endlich eine stringente mathematische Form geben konnte.
Die eigene Befindlichkeit mit Glück und Pech zu begründen birgt noch weitere Fallstricke. Wir neigen nämlich dazu, unsere Situation mit der anderer zu vergleichen. In der antiken Philosophie der Lebenskunst war das eine Todsünde. Der Hang zum Vergleich fördert schließlich die Entwicklung von Charaktereigenschaften, die mit Notwendigkeit zu Gram und Verdrießlichkeit führen. Die Rede ist von Neid und Missgunst. Man schaut sich neugierig um. Und gerade in der global vernetzten Welt findet sich immer einer, der besser aussieht oder wohlhabender ist, einen attraktiveren Partner hat oder etwas besser kann als man selbst. Und das wird in der Lesart von Glück und Pech als ungerecht empfunden. Warum die oder der und nicht ich?
Aus dieser Falle führt kein Weg heraus. Es sei denn, man ändert die Perspektive, akzeptiert seine Situation oder beschließt, sie aus eigenen Kräften zu ändern. Das wäre der gebotene Aufbruch in die Eigenverantwortung. Aber auch dieser hat eine Schattenseite. Wenn man sich die falschen Ziele setzt. Damit kommen wir zur zweiten Lesart des Glücks.
Fragt man Menschen nach ihrem Lebensziel, dann geben sie meist an, zufrieden und glücklich sein zu wollen. Dabei wird das Lebensglück mit Gesundheit und Erfolg in einen Zusammenhang gedacht. Wie essentiell Gesundheit ist, weiß jeder, der einmal ernstlich krank war. Nicht umsonst heißt es “Der Gesunde hat viele Probleme, der Kranke nur eins.“ Obwohl Gesundheit als essentieller Teil für die Zufriedenheit genannt wird, wundert man sich aber, dass viele Menschen dieser recht wenig Beachtung schenken. Übergewicht ist in allen reichen Ländern ein großes Problem. Rauchen und Trinken ebenfalls.
Aber nicht nur der nachlässige Umgang mit dem eigenen Körper gibt Anlass zum Nachdenken. Auch viele der angestrebten Erfolgskriterien wären zu hinterfragen. Neben harmonischen Familienverhältnissen und Gesundheit werden Wohlstand, Ansehen, Karriere oder Einfluss angestrebt. Gerade kürzlich befragte man Teenager nach ihren Zukunftsplänen. Die meisten wollten einfach berühmt werden und zwar mit überschaubarem Aufwand. Der “Influencer“, der sich auf Social-Media-Kanälen viele Klicks holt, stand ganz hoch im Kurs. Aber das Streben nach Ansehen ist nicht nur unter Jugendlichen verbreitet. Auch Personen des öffentlichen Lebens, die sich etwas auf ihren Intellekt einbilden, sind prädestiniert, an die Angel zu gehen. Das Verlangen seine Meinung in den maßgeblichen Gazetten platziert zu sehen oder sich in Talkshows zu allem und jedem zu äußern, kann suchtartig werden.
Will man verstehen, weshalb das angestrengte Streben nach Geld, Ansehen, Karriere und Einfluss mit Vorsicht zu genießen ist, macht es Sinn, sich mit einigen grundlegenden psychologischen Prinzipien auseinanderzusetzen. Da gibt es an erster Stelle den Gewöhnungseffekt. Dieser ist eigentlich weder gut noch schlecht. Es ist tröstlich, dass viele Querschnittsgelähmte, die wegen eines Unfalls im Rollstuhl landen, eine Zufriedenheit erreichen können, die mit der vor dem Unfall vergleichbar ist. Hier funktioniert Gewöhnung wie ein lindernder Balsam.
Sie kann aber auch eine andere Dynamik entfalten. Betrachten wir einen jungen Mann, der seine Ersparnisse zusammenkratzt, um sich einen nagelneuen Golf mit potentem Motor und Doppelauspuff zu kaufen. Steht das ersehnte Auto endlich in der Garage, kennt der Besitzerstolz keine Grenze. Leider verblasst das euphorische Gefühl mit der Zeit. Er gewöhnt sich an das Auto. Um einen neuen Kick zu bekommen, muss etwas Besseres her. Der Golf wird verkauft, jetzt gibt es den getunten BMW, nur wenige Jahre später muss es dann ein bulliger Mercedes sein. Dieser getriebene Zyklus von Erstreben, Erwerben, Gewöhnen und Veräußern wird in der Psychologie als die hedonistische Tretmühle bezeichnet. Wie ein Hamster im Laufrad bewegt man sich im Käfig seiner eigenen Zwänge. Doch das ist nicht alles:
Im Hamsterrad muss die Laufgeschwindigkeit permanent erhöht werden, um zur ersehnten Befriedigung zu gelangen. Das hat mit einem interessanten funktionalen Zusammenhang zu tun, der vor allen Dingen von dem Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahnemann und seinem verstorbenen Kollegen Amos Tversky untersucht wurde.
Denken wir uns ein Koordinatensystem! Dann steht auf der X-Achse der objektive Wert. Rechts vom Nullpunkt könnte das ein Geldbetrag sein, den man bekommt. Links wären Verluste aufzutragen. Die Y-Variable bezeichnet Lust und Verdruss. Wie sehr freut man sich, wenn man einen bestimmten Betrag erhält oder wie sehr ärgert man sich, wenn man Geld verliert. Diese “Lust- und Verdruss-Funktion“ hat einige eindrückliche Eigenschaften. Da ist zum einen die Tatsache, dass Menschen negative Ereignisse stärker empfinden als positive. Der Ärger tausend Euro zu verlieren ist größer als die Freude, denselben Betrag zu gewinnen. Die Funktion also ist keine Winkelhalbierende, die durch den Nullpunkt geht. Das hat weitere Konsequenzen. Wenn der BMW doppelt so teuer ist wie der Golf, ist die Freude leider nicht doppelt so groß. Sie ist kleiner, da es sich bei der “Lust- und Verdruss-Funktion“ um eine Sättigungskurve handelt. Sowohl im negativen, wie im positiven Bereich nähert sie sich einem Wert, der nicht überschritten wird. Anschaulich sieht die Funktion ein bisschen wie ein in die Höhe gezogenes S aus. Das ist auf der Schmerzensseite positiv. Das empfundene Unglück hat eine Grenze. Die Freude aber auch. Diese steigt zuerst stark an, um dann mit wachsendem Einsatz immer mehr abzuflachen. Am Anfang ist sie also groß. Das erste Auto ist ein euphorisierendes Erlebnis. Doch je mehr man hat, desto mehr muss man investieren, um einen deutlichen Zuwachs an Glück zu empfinden. Das macht das Rennen in der Tretmühle zu einem letztlich hoffnungslosen Unterfangen.
Und die Jagd nach dem Kick durch den Konsum hat weitere Schattenseiten. Beständig wird nach links und rechts geäugt, um sicherzustellen, dass man gut im Rennen liegt. Vielen reicht es nicht, dass es ihnen gut geht. Wichtig ist, dass es ihnen im Vergleich zu anderen besser geht. Auch zu diesem Phänomen gibt es aufschlussreiche Daten. Was wäre Ihnen lieber? Sie bekommen 80000 Euro, ihre ganzen Nachbarn aber 100000. Oder sie bekommen 60000 Euro und die Nachbarn nur 40000. Tatsächlich entscheiden sich mehr Menschen für die zweite Variante als für die erste. Das lässt nur eine Folgerung zu: Der relative Wert ist maßgeblicher als der absolute. Fassen wir zusammen: Für den jungen Herren, geht es nicht um das Auto an sich. Stattdessen ist er mit einem schwierigen Optimierungsproblem konfrontiert: Wie es gelingt ihm, mit gerade noch vertretbarem finanziellen Aufwand, ein Statussymbol zu erwerben, dass den eigenen Ansprüchen genügt und gleichzeitig den nötigen Eindruck schindet? Solche Probleme können die Gemütslage ziemlich beeinträchtigen Und natürlich sind nicht nur männliche Autokäufer betroffen sondern auch Frauen auf der Jagd nach der ultimativen Handtasche oder Familien auf der Suche nach dem absolut unverwechselbaren Urlaubserlebnis. Oder Eltern, die an der Karriere ihrer Kinder feilen. Oder Menschen, denen Gehalt und Laufbahn über alles gehen. Überall, wo wir gewaltsam optimieren, um uns mit andern zu vergleichen, tappen wir in die Falle und werden Opfer der gerade beschriebenen Mechanismen. Es gefährdet also die Seelenruhe, wenn man im Namen des Erfolgs Reichtum, Ansehen, Aussehen, Ruhm oder Macht erstrebt. Dieses Streben kennt kein Ende. Es ist wie Salzwasser für den Dürstenden.
Vor diesem Hintergrund wird nun nachvollziehbar, weshalb unsere gegenwärtige Einschätzung der Coroankrise, legt man historische Maßstäbe zugrunde, so unangemessen ist. Wir haben uns mit großer Selbstverständlichkeit an einen unvergleichlichen Wohlstand gewöhnt, wobei wir dessen absolute Größe weder hinterfragen noch zur Kenntnis nehmen. Im “Lust-und Verdruss-Diagramm“ sind viele schon sehr weit nach rechts gewandert. Substanzielle Verbesserungen sind da kaum mehr möglich. Dafür nehmen wir graduelle Verschlechterungen als ausgesprochen schmerzhaft wahr. Und zu allem Überfluss machen wir unsere Befindlichkeit auch noch davon abhängig, wie wir uns im Vergleich zu anderen Menschen einordnen. Damit wären wir erneut bei den Glücksgiften Neid und Missgunst. Warum der oder die und nicht ich?!
Da Vergleiche mit anderen in unserer Gesellschaft eine so große Rolle spielen, obwohl diese die Lebenszufriedenheit in tückischer Weise untergraben, muss hier noch über den Einfluss der sozialen Medien gesprochen werden, die in diesem Zusammenhang wie ein Brandbeschleuniger wirken. Es ist nämlich wichtig zu verstehen, dass Medien wie Facebook oder Instagram globale Schaufenster sind.
Sie verleiten dazu, anderen Menschen zu folgen und deren Leben zu betrachten, man liegt aber auch selbst in der Auslage und wird von ihnen betrachtet. Da will man natürlich ein gutes Bild abgeben. Das verleitet dazu, seinen virtuellen Auftritt wirkungsvoll zu gestalten und die Möglichkeit der gesteuerten Selbstinszenierung gestattet es, die gewünschte Aufmerksamkeit zu generieren. Und genau diese Aufmerksamkeit ist mit dem Ansehen korreliert. Wobei Ansehen hier ganz wörtlich zu verstehen ist. Aus der Verhaltensbiologie weiß man, dass Menschen mit großem Ansehen von vielen Menschen angesehen(!) werden. Wie verführerisch ist es deshalb für Menschen mit histrionischer Persönlichkeit, von Millionen Menschen am Bildschirm betrachtet zu werden? Doch auch hier lauert Gefahr.
Von dieser sind besonders Mädchen und junge Frauen betroffen. Während man weiß, dass bei der eigenen Inszenierung mitunter geschickt gemogelt wird, neigt man dazu, die aufpolierten Existenzen der anderen für authentisch zu halten. Bei den anderen scheint im Urlaub offensichtlich permanent die Sonne, die Partys sind rauschender, sie sind immer super gelaunt und besser aussehen tun sie auch noch. Das führt zur Niedergeschlagenheit. Oder zur Gegenreaktion. Einem krampfhaften Kampf um Aufmerksamkeit, der die verrücktesten Formen annehmen kann. Am verstörendsten sind Mädchen, die sich im globalen Schlankheitswettkampf zu Tode hungern oder sensationslüsternde Reiseblogger, die auf der Suche nach dem ultimativen Film von Klippen stürzen oder in Wasserfällen ertrinken.
Wie könnte man die Schwerpunkte in seinem Leben anders setzen? Da gäbe es natürlich den klassischen und bewährten Weg der Philosophie. Man befragt ausgewiesene Meister der Lebenskunst wie Epikur, Seneca, Marc Aurel, Buddha, Laotse oder Aristoteles und macht sich auf einen langen Weg. Man könnte sich aber auch mit der Harvard-Glücksstudie beschäftigen, einem modernen Experiment, das seines Gleichen sucht. Wir wählen hier die zweite Möglichkeit. In der Harvard-Glücksstudie wurden die Lebenswege von 814 Menschen akribisch untersucht. Die Probanden waren eine wilde Mischung. Begabte weiße Männer, Menschen verschiedenster Ethnien aus ärmeren Verhältnissen und Frauen mit extrem hohem Intelligenzquotienten. Die Testpersonen, die bis zum heutigen Tage anonym sind, wurden in regelmäßigen Zeiträumen genauestens befragt, beobachtet und analysiert. Die wesentliche Frage war, was ein glückliches Leben ausmacht. Nachdem man diese Menschen meistens bis ans Sterbebett begleitet hatte, kristallisierte sich eine Essenz heraus, die uns zu denken geben muss. Zuerst fand man das Naheliegende: Schwere Krankheit, der Verlust der Kinder, katastrophale finanzielle Verhältnisse, sind Bedingungen, die dem Glück massiv im Weg stehen. Doch bei denen, die von solchen Schicksalsschlägen verschont geblieben waren, stellte sich nicht automatisch Zufriedenheit ein! Es zeigte sich, dass die oben diskutierten und gesellschaftlich geadelten “Erfolgskriterien“ Ansehen, Aussehen, Wohlstand, Einfluss für das Lebensglück keine wesentliche Rolle spielen. Entscheidend waren einzig zwei Punkte. Glücklich wurden die, die für sich eine Lebensaufgabe gefunden hatten, die ihrem eigenen Wesen entsprach und die zudem in der Lage waren, Liebe zu geben und Liebe zu empfangen. Gerade der erste Aspekt deckt sich mit der Einschätzung des griechischen Philosophen Aristoteles.
„Glück wird dem Zuteil, der gemäß seines eigenen Wesens lebt“ sagte er, wobei er so klug war zu wissen, dass Gesundheit, bescheidener Wohlstand, eine intakte Familie und gute Freunde notwendige Bedingungen des Glücks sind. Wie aber erfährt man, ob eine Tätigkeit, die man anstrebt, seinem eigenen Wesen entspricht?
Damit kommen wir zum alten Orakelspruch von Delphi, der in den verschiedensten Auslegungen eine zentrale Rolle in der Philosophie spielt. Er lautet: “Erkenne Dich selbst!“. Leider hat dieser harmlos klingende Satz eine verstörende Tiefe. Der Prozess, sich selbst auszuloten, die eigenen Ängste, Bedürfnisse, Befähigungen zu erkennen, ist nichts, das sich in einem Wochenendseminar erledigen ließe.
Das ist eine lohnende Aufgabe, der man sich stellen muss und die einen langen Atem braucht.
Vor Hintergrund gesammelter antiker Lebenskunst und den aktuellen Ergebnissen der Harvard-Glücksstudie sei nun eine ketzerische Frage erlaubt: Stehen die in unserer Gesellschaft für selbstverständlich gehaltenen Erfolgskriterien, die uns in vielen Zusammenhängen wie ein Mantra vorgebetet werden, dem Glück im Weg, während eine Lebensführung, die sowohl den Einsichten antiker Weisheitslehrer als auch moderner Glücksforschung entspricht, wenig Wertschätzung erfährt?
Wenn es so zentral ist, Liebe zu geben und Liebe zu empfangen und einen Lebensweg einzuschlagen, der dem eigenen Wesen gemäß ist, dann stellt sich heraus, dass die Art und Weise, wie wir in unserer Gesellschaft Schule und Studium gestalten, und wie viel Zeit wir mit unseren Kindern, Verwandten und Freunden verbringen und wie wir mit diesen umgehen, im tiefsten Sinne philosophische Probleme sind. Hinterfragen wir diese wichtigen Punkte?
Bliebe noch hinzuzufügen, dass ein Leben, das die Schwerpunkte eher in den Beziehungen und weniger in den Dingen setzt, unseren Lebensraum schont.
Zur Zufriedenheit braucht es viel weniger, als man glaubt. Außerdem geraten andere Charaktereigenschaften in den Fokus. An die Stelle von Neid und Missgunst treten die Glücksbringer Bescheidenheit und Dankbarkeit.
Immer am dritten Wochenende im Juli findet in Venedig in der Kirche Il Redentore ein großer Gottesdienst statt. Man ist dankbar und feiert, dass die Pest Geschichte ist. In diesem Jahr hat man die Coronaseuche, die wir mit konsequenter Impfung wohl in den Griff bekommen werden, zum ersten Mal in die Feier mit eingeschlossen. Damit wäre zumindest in Italien ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung getan.