#Toleranz – die neue Coolness

Von Thomas Lange 

Warum wir uns Voltaire als coolen Typen vorstellen müssen und was wir von ihm über Souveränität in gesellschaftlichen Debatten lernen können. 

Hoch geht es her in den sozialen Medien. An den Zustand der Dauerregung hat man sich ja fast gewöhnt. Auch daran, dass jeder Satz mit einem Ausrufezeichen zu enden scheint. Und doch überraschen der Eifer und die Waffen, mit denen hier gefochten wird: eher Keule denn Florett. Und das ausgerechnet – oder gerade? – in Kreisen der gefühlten Geisteseliten. Auslöser kann mitunter schon einmal die Frage sein, ob die Autorin eines Sachbuchs die Mitwirkung eines Ghostwriters hätte kenntlich machen müssen. 

Worum geht es bei all dem Eifer? Blenden wir für einen Moment die Logiken der Aufregungsbewirtschaftung und der Aufmerksamkeitsökonomie einmal aus. Dann geht es vielen Streitern in der öffentlichen Debatte durchaus um gesellschaftliche Veränderung. Denn dafür kämpfen Politikerinnen und Experten, Aktivistinnen und Intellektuelle ja gleichermaßen: für eine bessere Welt. Wie diese Welt aussehen soll und wie wir dort hinkommen – darüber lässt sich trefflich streiten. 

Die Frage ist nur: muss es dabei so verbissen zugehen, so kategorisch und persönlich? Oder anders formuliert: Wo bleibt die Toleranz? 

So wenig sich die Menschen für schlechte Autofahrer oder Liebhaber halten, würden sich die wenigsten von uns als intolerant bezeichnen. Und doch: Ein bisschen nachsichtiger, ein bisschen demütiger, ein bisschen höflicher – das wäre vermutlich schon drin. 

Nachsicht 

Wer tolerant ist, beweist nicht nur zähneknirschend Nehmerqualitäten (wir halten die Meinung anderer aus), sondern tut dies auch aus einer bestimmten Haltung heraus. 

In den Worten Voltaires: „Was ist Toleranz? Sie ist die Menschlichkeit überhaupt. Wir sind alle gemacht aus Schwächen und Fehlern; darum sei das erste Naturgesetz, dass wir uns wechselseitig unsere Dummheiten verzeihen.“ 

Eine gewisse Großzügigkeit – um nicht zu sagen Weitherzigkeit – steht uns also durchaus gut zu Gesicht. 

Demut 

Gerade Experten neigen womöglich dazu, sich selbst zu überschätzen – und zwar hinsichtlich ihrer Rolle und Bedeutung im politischen Prozess. Niemand würde wohl bestreiten, dass wir Expertenwissen brauchen, um die großen Herausforderungen unserer Zeit zu meistern. Egal ob es um Corona, das Klima oder die Armutsbekämpfung geht – ohne Expertenwissen stochern wir orientierungslos im Nebel herum. Aber in Demokratien kommt es nicht allein auf dieses Wissen an. 

„[…] Wenn in Demokratien Dinge zu entscheiden sind, die alle betreffen, so ist Distanz zu Experten wichtig. Jeder Experte kennt nur seine eigenen Spezialprobleme, aber alle Probleme bedürfen einer Entscheidung und die Entscheidung eines speziellen Problems verhindert und verzögert die Lösung anderer Probleme. Demokratischer Dilettantismus entsteht aus notwendiger Distanz zu einer Fachidiotie, die immer nur bestimmte Interessen und Aspekte einzubeziehen vermag.“ 

So bringt der Verfassungsrechtler Christoph Möllers das Verhältnis von Expertentum und Demokratie auf den Punkt. „Natürlich können durch diese Distanz falsche Entscheidungen getroffen werden.“ Aber das sei in Expertokratien auch nicht anders. Schließlich könnten auch Experten irren oder seien verführbar. Vor allem aber – und dieser Punkt scheint für einige Experten nur schwer erträglich zu sein: „In der Demokratie sind nicht alle gleich klug, gebildet oder erfahren. Aber die Demokratie unterstellt allen das gleiche Vermögen, eigene und öffentliche Angelegenheiten zu beurteilen. […] Politisches Urteilsvermögen [ist] keine Fähigkeit, die mit Ausbildung und Intellektualität zunehmen würde.“

Höflichkeit 

So wie der Mensch nicht vom Brot allein lebt, lebt die offene und demokratische Gesellschaft nicht allein von Regeln und Gesetzen. Sie erfordert auch einen halbwegs zivilisierten und respektvollen Umgang, den wir im Alltag miteinander pflegen. Der Ton macht die Musik. 

Und wer – umgekehrt – dennoch bepöbelt wird? Der mache sich mit Schopenhauer klar, dass es üblicherweise die in der Sache längst Geschlagenen sind, die persönlich ausfällig werden: „Beim Persönlichwerden […] verlässt man den Gegenstand ganz, und richtet seinen Angriff auf die Person des Gegners: man wird also kränkend, hämisch, beleidigend, grob. Es ist eine Appellation von den Kräften des Geistes an die des Leibes, oder an die Tierheit. Diese Regel ist sehr beliebt, weil jeder zur Ausführung tauglich ist, und wird daher häufig angewandt.“ Schopenhauers Rat: gelassen bleiben. Und sich gut überlegen, in welche Debatten man tatsächlich einsteigen will. Und vor allem mit wem.

Zum Schluss noch einmal Voltaire, weil es so schön ist: 

„Die Natur hat zu allen Menschen gesprochen: Ich ließ euch alle schwach und unwissend geboren werden […]. Da ihr schwach seid, helft euch; da ihr unwissend seid, klärt euch auf und habt Nachsicht untereinander. Seid ihr alle derselben Meinung, was sicher nicht geschehen wird, so solltet ihr, wenn es auch nur einen einzigen Menschen mit einer anderen Ansicht gibt, sie ihm zugute halten, denn ich bin es, der ihn so denken lässt, wie er denkt. Ich habe Euch Arme gegeben, um das Land zu bebauen, und einen kleinen Schimmer Vernunft, um euren Weg zu finden; in eure Herzen habe ich einen Keim von Mitleid gesetzt, damit ihr einander helft, das Leben zu ertragen. Erstickt diesen Keim nicht, verderbt ihn nicht, wisst dass er göttlich ist, und ersetzt nicht die Stimme der Natur durch den armseligen Eifer der Schule.“ 

Bleiben wir also cool – und seien wir tolerant!



Dr. Thomas Lange ist Volkswirt und war lange bei der Akademie für Technikwissenschaften (Acatech) in München beschäftigt. Er ist jetzt für ein Münchener Family Office tätig.

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Dieser Beitrag ist am 15. August 2022 zuerst auf dem Blog Der Debatte halber erschienen.