Von der Zeit und dem Mut ein Anderer zu werden

“Wenn man zwei Stunden lang mit einem Mädchen zusammensitzt, meint man, es wäre eine Minute. Sitzt man jedoch eine Minute auf einem heißen Ofen, meint man, es wären zwei Stunden. Das ist Relativität.“

Der Physiker Albert Einstein war berühmt für seine Bonmots. Einige hundert sind erhalten. Man darf allerdings vermuten, dass er den einen oder anderen Spruch benutzte, um sich lästige Fragesteller elegant vom Hals zu schaffen. Einstein, der lange Jahre nicht einmal ein Telefon besaß, schätzte es, beim Nachdenken in Ruhe gelassen zu werden. Öffentliche Auftritte, vor allen Dingen Gespräche mit Journalisten, waren ihm eher notwendige Pflicht. In diesem Sinne ist auch das Ofenzitat aufschlussreich. Vermutlich wollte der Fragesteller eine anschauliche und bündige Darstellung von Einsteins Relativitätstheorie. Zum Verständnis dieses abstrakten Gedankengebäudes, braucht man allerdings ein gerüttelt Maß an mathematischer Bildung. Um nun nicht etwas zu banalisieren, was sich nicht banalisieren lässt, griff Einstein zu einer List. Er wählte ein Beispiel über die Relativität der Zeit, das jeder Mensch sofort nachvollziehen kann. Doch wenn man ehrlich ist, gibt es ein Problem: Das von Einstein gewählte Beispiel hat mit der Relativität der Zeit in seinen Theorien überhaupt nichts zu tun. Trotzdem hat das Schlitzohr nicht gelogen. Einstein sprach einfach nur von Relativität der Zeit, bezog diese aber auf Zeitempfindungen. Unterschiedliche Zeitempfindungen sind allerdings etwas anderes, als Gangunterschiede zueinander bewegter Uhren, die in der Relativitätstheorie eine zentrale Rolle spielen.

Schon an dieser Stelle ahnt man, dass das Nachdenken über die Zeit in einen Irrgarten führen kann. Und dieses Gefühl verstärkt sich noch, wenn man dem Ofenzitat ein anderes von Einstein gegenüberstellt. Dort sagte er kurz angebunden: 

“ Zeit ist das, was man auf der Uhr abliest“. 

Jetzt sitzen wir in der Falle. Dieses Zitat steht ganz offensichtlich in einem Widerspruch zum ersten. Warum? Das kurzweilige Beieinandersitzen mit dem Mädchen und die schmerzhafte Folter auf dem heißen Ofen unterscheiden sich um einen gehörigen Faktor. Das wird offensichtlich, wenn man gleiche Zeitintervalle miteinander vergleicht. Würde man wie beim kurzweiligen Rendezvous ganze zwei Stunden auf dem Ofen schmoren, dann kröche die Zeit dort fast 15.000 mal langsamer! Wenn Zeit aber einfach das ist, was man auf der Uhr abliest, dann sind zwei Stunden zwei Stunden. Wie lässt sich dieser Widerspruch lösen? Indem man ein kleines Wörtchen streicht. Nämlich den bestimmten Artikel “die“. Die Frage “Was ist die Zeit“ führt nicht weiter. Die Zeit gibt es nicht. 

Es gibt allerdings unterschiedliche Zeitkonzepte, die wir gewöhnlich mit einer gewissen Leichtfertigkeit unter dem Terminus “Zeit“ subsummieren. Zwei der wichtigsten haben wir gerade kennengelernt. Diese könnte man als “objektive“ oder “physikalische“ im Unterschied zur “subjektiven“ Zeit bezeichnen. Persönlich finde ich diese geläufigen Bezeichnungen nicht so hilfreich, weshalb ich lieber die etwas sperrigeren aber genaueren Bezeichnungen konstruierte und empfundene Zeit verwenden möchte. Beide Zeitkonzepte sind für uns moderne Menschen von großer Bedeutung und es ist wichtig zu verstehen, wie eng diese mit unserem Leben verwoben sind.

Beginnen wir mit der konstruierten Zeit! Das wäre gemäß Einstein die Zeit, die man auf der Uhr abliest. Leider ist Einsteins “Erklärung“ in diesem Zusammenhang nicht wirklich befriedigend. Sie ersetzt ein Fragezeichen durch ein anderes. Um zu wissen was die Zeit ist, müsste man wissen, was eine Uhr ist. Ist diese tatsächlich ein Zeitmesser? Ist die Zeit also Teil einer vom Beobachter unabhängigen Wirklichkeit, die sich mittels eines Messgeräts, genannt “Uhr“ ermitteln lässt? Durchwebt sie alle Teile des Wirklichen und ist in dieser Form Ausdruck einer absoluten Zeit, die jedem noch so kleinsten Partikel des Seins den Takt schlägt? 

Die Idee, dass die Zeit eine eigenständige Existenz hat, geht vor allen Dingen auf den Philosophen Platon zurück. Doch genau diese Idee, die in verwandelter Form auch bei Isaac Newton auftauchte, der von einem absoluten Raum und einer absoluten Zeit sprach, wurde von Einstein widerlegt. Dieser zeigte nämlich, dass die Zeiten, die verschiedene Beobachter auf ihren Uhren ablesen, von ihren relativen Bewegungszuständen abhängen. Deren Messungen, das muss betont werden, sind aber alle gleich gültig. Nur eine hervorzuheben und für absolut zu erklären, wird deshalb im Lichte der Relativitätstheorie zu einem Akt von Menschen gemachter Willkür.

Deshalb scheinen Uhren doch etwas anderes zu sein. Aber was? Da wäre als erstes festzuhalten, dass schon in der Jungsteinzeit viele Kulturen wussten, dass das täglich wahrnehmbare Himmelsspektakel eine Mischung aus Chaos und Ordnung ist und damit zumindest in Teilen als Taktgeber fungieren kann. Die Wechselwendigkeit des Wetters ist unterlegt von Rhythmen, die eine eherne Regelmäßigkeit zu besitzen scheinen: dem Sonnentag, dem Mondmonat und der jährlichen Umdrehung der Erde um die Sonne. Diese Zyklen kann man Kalendersystemen zugrunde legen. Doch für genauere Zeitbestimmungen sind sie nur bedingt geeignet, da sich zum Beispiel der Tag nicht so exakt unterteilen lässt. Wie lässt sich der Tag genauer strukturieren? Die Menschen machten sich vor der Erfindung der Uhren vor allen Dingen biologische Rhythmen zunutze. Die Andamanen, die auf einer östlich von Indien gelegenen Inselgruppe im Urwald leben, haben extrem empfindliche Nasen und strukturieren bis heute Jahres- aber auch Tageszeiten nach Gerüchen. So kann eine Zeitangabe lauten: Wir treffen uns am nächsten Tag, wenn die Zibetfrucht am stärksten riecht. In Europa waren sogenannte Blumenuhren verbreitet. Hier machte man sich den Umstand zunutze, dass verschiedene Blumen ihre Blüten zu verschiedenen Zeiten des Tages öffnen und wieder schließen. Auch auf diese Weise war es möglich, den Tag zeitlich zu differenzieren. Es ist in unserem Zusammenhang aber wichtig, dass man sich zur zeitlichen Orientierung natürlicher Rhythmen bediente und diese noch nicht künstlich herstellte. Das gilt auch im Fall der bekannten Sonnenuhr, bei der ein Stock, ein sogenannter Gnomon, in Abhängigkeit vom Sonnenstand einen Schatten wirft. Den verschiedenen Positionen des Schattens lassen sich Zahlen oder Zeichen zuordnen, die man dann benutzen kann, um Zeitpunkte festzusetzen. 

Doch der Nachteil von Sonnenuhren ist offensichtlich: Sie funktionieren nur an unbewölkten Tagen. Künstlich hergestellte Uhren besitzen solche Nachteile nicht. Betrachten wir in diesem Zusammenhang die Klepshydra, die Wasseruhr. Diese gibt es in verschiedenster Bauart. So kann aus einem oberen Gefäß Wasser durch eine Öffnung in einen Auffangbehälter laufen, der mit Maßstrichen versehen ist. Der Füllstand des Auffangbehälters, wird dann mit einer Zeitdauer korreliert. Am Beispiel der Klepshydra lassen sich viele Eigenschaften verstehen, die auch für moderne Uhren typisch sind. Das beginnt mit ihrem Zweck. In der Antike wurden sie häufig verwendet, um die Redezeiten vor Gericht zu begrenzen, sodass alle Parteien dieselbe Zeit hatten, ihre Standpunkte vorzubringen. Auf diese Weise ließ man Gerechtigkeit walten. Die Uhr diente also dazu, gemeinschaftliches Handeln zu strukturieren und zu steuern. Wie müssen die Uhren beschaffen sein, um dieser Aufgabe genügen zu können? Sie müssen vergleichbar sein, also gleich schnell gehen! Diese Forderung ist aber nur gegeben, wenn man sie normiert. Hätten vor Gericht Kläger und Verteidiger Wasseruhren, die unterschiedlich schnellliefen, würden gleiche Füllstände unterschiedlichen Zeitdauern entsprechen. Damit wäre eine der Parteien im Vorteil, die andere im Nachteil. Um die Uhren vergleichbar zu machen, braucht es nun handwerkliches Geschick. In den Auffangbehältern sollen die zeitlichen Markierungen, die mit den Füllständen korrelieren, gleichen Volumina entsprechen und außerdem müssen die Durchlauföffnungen so beschaffen sein, dass durch sie gleich viel Wasser pro Zeit hindurchfließt. 

Obwohl wir hier erstmals der Normierung von Uhren begegnen, die gewährleisten, dass Zeitdauern, die von verschiedenen Geräten angezeigt werden, vergleichbar sind, mussten noch viele Jahrhunderte vergehen, bis Uhren auftauchten, die den in unserer Zeit gebräuchlichen ähneln. Diese kamen erstmals an einem Ort zur Anwendung, wo man am wenigsten mit ihnen gerechnet hätte. Den Benediktinern, die uns heute von den Etiketten der Bierflaschen anlächeln, verdanken wir nämlich nicht nur die Geheimnisse der Braukunst und sorgsam gepflegte Kräutergärten, sondern auch den mit der Uhr überwachten Stundenplan. 

Es war Benedikt von Nursia, der mit seinen strikten Ordensregeln eine Revolution in Gang setzte, die uns bis zum heutigen Tage mitreißt und für alle Zeiten aus Arkadien vertrieben hat. Diese Revolution ist so tiefgreifend, dass Benedikt neben Jesus und Pythagoras zu den Menschen gehört, die unser westliches Leben mit der größten Nachhaltigkeit geprägt haben. 

Benedikt war Zeitverschwendung ein Gräuel. Die Zeit gehörte Gott. Jede Sekunde war kostbar: Seine Notdurft verrichten, den Kopf rasieren, den Herren preisen und die Mahlzeiten zu sich nehmen, alles hatte seinen von Benedikt festgesetzten Zeitpunkt. Um diesen rigiden Stundenplan einhalten zu können, suchte man einen verlässlichen Taktgeber. Und so waren es die Benediktiner, die die ersten Uhren mit Hemmung erfanden. Da nun die Ordensregeln für alle Benediktinerklöster verbindlich waren, war es darüber hinaus notwendig, gleichlaufende Uhren zu bauen. Diese schlugen allen Mönchen zur rechten Zeit die Stunden. 

Gerade in diesem Zusammenhang wird deutlich, dass es bei der Verwendung von Uhren nicht darum geht, “die Zeit zu messen“. Es geht darum, verlässliche Maschinen zu konstruieren, damit verschiedene Menschen in der Lage sind, ihre Handlungen zu koordinieren und so komplexe soziale Zusammenhänge zu schaffen.

Außerdem wird offenbar, dass den natürlichen Rhythmen wie Tag, Monat und Jahr menschengemachte zeitliche Metriken eingewoben werden, die eigentlich mit Willkür behaftet sind: Stunden, Minuten, Sekunden sind keine natürlichen Maße, sondern verdanken sich einer künstlichen Definition und Setzung. 

Das Geheimnis der raffiniert konstruierten künstlichen Uhren blieb der Welt außerhalb der Klostermauern natürlich nicht verborgen. Bald kamen sie in das Blickfeld der Unternehmer und Kaufleute, die schnell verstanden, dass sich mit deren Hilfe Fertigungsprozesse effizienter gestalten ließen. Das Ergebnis ist uns allen bekannt: Was als Schrulle eines Mönchs begann, hat sich heute zu einem Moloch gewandelt, vor dem es kein Entrinnen mehr zu geben scheint. Wer in unserer Zeit unternehmerisch erfolgreich sein möchte, muss sich den Spielregeln des Marktes unterwerfen. 

Zu diesen gehört es, zu konkurrenzfähigen Preisen zu produzieren. Und da die Arbeitszeit zu den Kosten gehört, muss diese so effizient wie möglich genutzt werden. Von der noch im Mittelalter üblichen Praxis, ein Werkstück fertig zustellen, wenn man gerade Lust hatte, sind wir heute Lichtjahre entfernt.

Bleibt noch auf die Funktion der Uhren in der Wissenschaft hinzuweisen. Stellen wir uns dazu den alten Galilei vor, der in der Renaissance wissen wollte, wie lange eine große Holzkugel braucht, die man eine lange schiefe Ebene herunter rollen lässt. Was muss man in diesem Zusammenhang messen können? Auf alle Fälle Winkel, Höhen und Längen. Die dazu notwendigen Messinstrumente waren zu seiner Zeit bekannt. Aber kann man mit diesen eine Bewegung messen? Nein, dazu braucht man eine Uhr. So wie ein Maßstab ein standardisiertes Längenmaß ist, so braucht man eine standardisierte Bewegung, mit der man die zu messende Bewegung vergleichen kann. Dass kann wie bei einer Wasseruhr ein gleichmäßiger Fluss sein oder eben eine gleichmäßig periodische Schwingung, wie bei den meisten modernen Uhren. 

Wie wenig selbstverständlich dieses Konzept ist, wird klar, wenn man sieht, mit welchen Schwierigkeiten der tapfere Galilei zu kämpfen hatte. Angeblich verwendete er zuerst ein bekanntes Kinderlied, um die Zeitdauer zu ermitteln, die die Kugel von oben nach unten brauchte. Er ließ sie oben los, sang und merkte sich die Silbe, wenn sie unten war. Die Ergebnisse waren aber unbefriedigend. Und auch sein unregelmäßiger Herzschlag taugte nicht als verlässliche Uhr. Erst als er ein Fadenpendel verwendete, wurden die Ergebnisse besser. Heutige Uhren sind milliardenfach genauer und geben den Naturgesetzen eine immer präzisere Gestalt. Wichtig ist in diesem Zusammenhang aber, dass wir Naturgesetze formulieren, die sich in Messgrößen ausdrücken lassen, die wir in großer Genauigkeit handwerklich zu kontrollieren wissen. Am Anfang auch der abstraktesten Gesetze steht ein elaboriertes Konstruktionswissen.

Unterm Strich sind Uhren also in erster Linie vom Menschen hergestellte Werkzeuge. Sie sollen seinen Zwecken genügen. Wir brauchen sie, um unser hyperkomplexes modernes Leben bis in den Nanosekundenbereich zu organisieren. Außerdem sind sie notwendig, um exakte Naturgesetze zu formulieren und anzuwenden.

Aber, erfassen die allgegenwärtigen Uhren damit wirklich die Aspekte des Zeitlichen, die für uns Menschen wichtig sind? Oder ist es ein folgenschwerer Trugschluss moderner Industriegesellschaften, dass wir die Zeit auf einem Zifferblatt ablesen können, um sie im nächsten Schritt nach eigenem Gutdünken zu sparen oder zu vergeuden? Das Einsteinsche Diktum, Zeit sei das, was man auf einer Uhr abliest, ist auf alle Fälle nur die halbe Wahrheit. Für ein erfülltes Leben sind andere Aspekte des Zeitlichen entscheidender.

Beginnen wir zur Erläuterung mit einer Empfindung, die alle kennen. Jeder erwachsene Mensch erinnert sich an Augenblicke seiner Kindheit, in der Zeit etwas ganz anderes war als heute. Das war eben nicht das monotone Klicken der Uhrwerke, die der organisierten Welt der Erwachsenen den Takt schlagen. Zeit hatte etwas Ungestaltetes, glich eher einem warmen See, in dem man sich genüsslich treiben ließ. Wie ist es möglich, aus diesem Paradies vertrieben zu werden? Warum ändert sich unser Zeitgefühl so radikal mit dem Älterwerden? Spätestens in der Lebensmitte, wenn der Blick von der Gegenwart immer öfter in die Vergangenheit schweift, machen wir eine befremdende Erfahrung: Die Zeit beginnt zu rasen. Lag früher zwischen Weihnachten und Weihnachten eine Ewigkeit, schrumpft dieser Zeitraum immer mehr zu einem Nichts. Gerade das immer schneller scheinende Auftreten gleichartiger Ereignisse, Weihnachten, Sylvester, der eigene Geburtstag oder die obligatorischen Ferien, lehrt uns das Fürchten. Wir spüren, dass wir mit beschleunigtem Schritt dem eigenen Ende entgegen fliegen. Wie kann das sein, in einer Welt der Uhren, die alle gleichmäßig ticken? 

Diese für uns so einschneidende Empfindung hat mit der Ganggenauigkeit der Chronometer am Handgelenk wenig zu tun. Tatsächlich steht in unserer Effizienzgesellschaft das falsche Zeitmaß im Fokus. Das Leben mittels einer Uhr zu verwalten wird ja in den Rang einer Kunst erhoben. “Effektives Zeitmanagement“ lautet das Schlagwort der Stunde. Und Knappheit von Zeit ist geradezu zum Statussymbol geworden. Über ungeplante Zeit verfügt nur der Nichtsnutz. Der gesellschaftliche Gegenentwurf, der von der eigenen Wichtigkeit narkotisierte Macher, plant Meetings im Viertelstundentakt und auf dem Laufband im Fitnessstudio werden noch Vokabeln gepaukt. Ärgerlich, dass man nachts schlafen muss und diese Zeit nicht besser nutzen kann. Aber betrügt man sich auf diese Weise nicht um sein eigenes Leben? Die empfundene Zeit, die mit der Lebensqualität so eng verwoben ist, spielt im hektischen Leben der meisten Erwachsenen eine untergeordnet Rolle. Berufliche Anspannung, Freizeitstress und familiäre Pflichten nähren das Bedürfnis, sich straff zu organisieren. Und das Mittel der Wahl ist eben die Uhr. 

Aber erfüllt empfundene Zeit ist keine tickende Mechanik. Sie hängt davon, mit welchen Augen wir die Welt betrachten und wie wir uns in dieser bewegen. Da stellt sich die Frage, ob das Phänomen der rasenden Zeit zwangsläufig ist oder ob wir die Möglichkeit haben, uns ein kindliches Zeitgefühl zu erhalten?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns mit einem rätselhaften Phänomen beschäftigen, dem “subjektiven Zeitparadoxon“. Dieses ist noch tiefgründiger als das Einsteinsche Ofenbeispiel, da es sich nicht nur mit unterschiedlich empfundenen Zeitdauern in der Gegenwart beschäftigt. Es wird auch hinterfragt, wie wir diese in der Rückschau einschätzen. Bemerkenswerter Weise stehen in diesem Zusammenhang gefühlte Gegenwart und erinnerte Vergangenheit in einem widersprüchlichen Verhältnis zueinander. In Momenten der Versenkung, wenn wir von einer Tätigkeit ganz gefangen sind und das Vergehen der Zeit gar nicht spüren, bläht sie sich diese in der Rückschau zum intensiv empfundenen Leben auf. Ganz anders, wenn wir in der Gegenwart zähe Langeweile empfinden. Dann verflüchtigt sich die Zeit im Rückblick zu einem Nichts. Das Leben fliegt an uns vorüber. 

Um das rätselhafte Zeitparadoxon zu dechiffrieren, beschäftigen wir uns zuerst mit dem tiefgründigen deutschen Wort “merkwürdig“. Leider hat dieses einen Beigeschmack: “Merkwürdig“ wird gerne mit “suspekt“ in einen Topf geworfen. Hier aber soll es anders aufgefasst werden und zwar im Sinne von “des Merkens würdig“. 

Etymologisch bedeutet “merken“, eine “Marke zu setzen“. Vor diesem Hintergrund können wir eine Beziehung zur Funktionsweise unseres Gehirns herzustellen. Merkwürdig sind also Erfahrungen, die von unserem Gehirn für würdig befunden werden, eine Marke zu hinterlassen. Das bedeutet, dass diese, in den Synapsen gespeichert, zur Erinnerung werden. 

Doch zur Auflösung des Zeitparadoxons bedarf es noch eines weiteren Schritts. Wir müssen sorgfältig zwischen Lernen und Können unterscheiden. 

Lernen ist immer ein Wagnis, da man sich mit Dingen beschäftigt, die man noch nicht kann. Würde man sie können, bräuchte man sie nicht zu lernen. Daraus ergibt sich zwangsläufig, dass wir uns beim Lernen immer wieder mit neuen Begebenheiten auseinandersetzen müssen. Im Gegensatz dazu zeichnet sich Können in den meisten Fällen durch das Ausführen bereits erlernter Routinen aus.

Jetzt erinnern wir uns, dass das Gehirn an vorderster Stelle ein Lernorgan(!) ist,  das Neuigkeiten liebt und Altbekanntes mit emotionsloser Routine erledigt. Beschäftigen wir uns nun in der Gegenwart mit Dingen, die wir noch nicht kennen, die neu für uns sind, dann läuft das Gehirn zu Höchstform auf. Das Neue ist des Merkens würdig und wird gespeichert. Ganz anders als die öde Routine, die ja bereits im Gedächtnis abgelegt ist. Das Gehirn bleibt hier in einem gelangweilten Stand-By-Modus. Wozu Energie für etwas aufbringen, das schon verinnerlicht ist?

Vor diesem Hintergrund verliert das subjektive Zeitparadoxon seine Widersprüchlichkeit. Das Zeitgefühl in der Gegenwart wird vor allen Dingen von den Pausen geprägt, die zwischen den Merkwürdigkeiten auftauchen. Sind die Pausen zwischen den neuen Eindrücken kurz, fliegt die Zeit, sind sie dagegen lang, weil nichts Interessantes passiert, wird die Zeit zum zähen Fluss. Erinnert werden aber nicht die Pausen, sondern das, was für das Gehirn erinnerungswürdig war: Das Unbekannte, das Unerwartete, das Neue. Das Immergleiche aber verschwindet spurlos im Orkus des Vergessens.

Jetzt wird klar, warum kindliches und erwachsenes Zeitgefühl so unterschiedlich sind. Für das Kind hat die Freude am Neuen eine fast rauschartige Qualität. Beim Entdecken der Welt sind Kinder so gefangen, dass sie das Vergehen der Zeit in der erlebten Gegenwart nicht spüren. Aber in der Rückschau dürfen sie sich über eine reiche Ernte freuen. Bei den Erwachsenen sieht das anders aus. Routinen haben sich ins Leben geschlichen. Deshalb wird die Gegenwart oft als ereignislos und langweilig empfunden. Und in der Rückschau, kann man sich eigentlich nicht erinnern, was man getan hat. Nur wenig, was des Merkens würdig gewesen war. Einprägsam ist in diesem Zusammenhang besonders die sogenannte Pendleramnesie: Der Wunsch, ein Häuschen im Grünen sein Eigen zu nennen, kann ernsthafte Konsequenzen für das persönliche Wohlergehen haben, zumindest bei denen, die gezwungen sind, lange Wege zur Arbeit zu fahren. Man hat festgestellt, dass genervte Berufspendler im Stau eine Konzentration von Stresshormonen im Blut haben, die höher ist als die von Kampfbomberpiloten. Noch bedenkenswerter aber ist, dass diese Stunden im Auto wie von Geisterhand aus der Erinnerung getilgt werden. Wer denkt da nicht an die Zeitdiebe aus dem Kinderbuch Momo. Je nachdem wie viel man fährt, können sich auf diese Weise ganze Lebensjahre im Nichts auflösen. 

Aber was soll man machen gegen die gleichmacherischen Zwänge der Routinen? Es ist doch unvermeidbar, dass das Leben im Erwachsenenalter nicht mehr so unverbraucht daherkommt wie bei einem Kind. Der Zauber der ersten Male liegt weit zurück: Die ersten Ferien am Meer, das erste Mal im Zirkus, der erste Schultag, der erste Kuss. Sind wir deshalb den Routinen, diesen Zeitfressern auf leisen Sohlen, ausgeliefert? Sparen wir nur auf der Uhr Zeit, während wir unser gelebtes Leben atomisieren? 

Um diese Fragen zu beantworten, muss man seine persönliche Lebenseinstellung auf den Prüfstein stellen. Natürlich schlagen sich bewährte Einsichten und Fertigkeiten in Routinen nieder und ersparen uns die mühselige Arbeit, das Leben gemäß neuer Erkenntnisse immer wieder neu organisieren zu müssen. Doch leider hat diese intellektuelle Sicherheit eine Kehrseite. Wir begegnen im Leben hauptsächlich Altbekanntem. Und damit verliert es seinen Zauber. Das Gefühl, dass die Zeit rast, ist deshalb der Preis für die Illusion sich kompetent zu fühlen.

Der Mut und die damit verbundene Bereitschaft sich auch immer wieder Neuem und Unerwartetem zu stellen, wäre das probate Gegenmittel. Doch mit neugierigen Erwachsenen ist das so eine Sache. Kinder werden für diese Charaktereigenschaft  gelobt. Aber ein neugieriger Erwachsener wird selten mit der Tugend des kindlichen Staunens assoziiert. Das ist eher einer, der seine Nase in Sachen steckt, die ihn nichts angehen. Stimmt deshalb die Beobachtung, dass im positiven Sinne neugierige Erwachsene eine seltene Spezies sind? Woran könnte das liegen? Vermutlich verlieren Erwachsene die besondere Fehlerkultur, die Kinder auszeichnet. Will ein Kind das Laufen lernen, fällt es permanent auf den Hosenboden. Es bleibt aber nicht frustriert auf dem Boden hocken und beschließt beim Bewährten zu bleiben und in Zukunft einfach weiter zu kriechen. Es steht einfach auf und versucht es erneut. 

Beschließen jedoch Erwachsene sich dem Unvertrauten zu stellen, lernen sie gerne, wenn niemand zuschaut. Das dem Lernen inhärente Misslingen, das erst nach einer Weile peu a peu überwunden wird, ist ihnen häufig unangenehm. Deshalb ist es stressfreier, beim Bewährten zu bleiben. Aber die Angst, sich in Frage zu stellen und stattdessen beim Bewährten zu bleiben, nährt wie beschrieben die galoppierende Zeit. 

In diesem Zusammenhang lohnt es sich, über ein letztes Einsteinzitat nachzudenken.

In einem Interview wurde der berühmte Physiker gefragt, was seine herausragenden Fähigkeiten seien. Einstein antwortete: Seine Stirn und seine Nase. Die Nase war das Symbol für Intuition und Neugier. Die Stirn Sinnbild für Ausdauer und Frustrationstoleranz. Mit dieser Aussage bringt uns Einstein am Ende auf die richtige Bahn: Die Stirn zu haben, seiner Nase zu trauen, ist für Erwachsene die einzige Möglichkeit, sich ein kindliches Zeitgefühl zumindest ein Stück weit zu erhalten und so der galoppierenden Zeit Zügel anzulegen.

Marco Wehr