Doppelmoral

Scheinheiligkeit ist keine Erfindung unserer Zeit. Das Freudenmädchen Anna von Ulm lebte am Ende des 15. Jahrhunderts in Nördlingen. Sie arbeitete im Bordell der Stadt. Ihre Geschichte ist gut belegt. Sie stieß sich an ihren Arbeitsbedingungen und sagte vor Gericht gegen die Pächter des Freudenhauses – Barbara Taschenfeind und Leonart Freyermut – aus. Die Prozessakte erzählt viel über die Lebensbedingungen von Prostituierten in dieser Zeit. Interessant war ihre Kundenliste: Studenten, Kaufleute, Handwerker aber auch …. Priester. Unverheirateten Männern war Prostitution erlaubt. Trotzdem irritieren die Geistlichen in der Liste. Keuschheitsgelübde, Schäferstündchen und flammende Moralpredigten von der Kanzel passen nicht zusammen.

Was nun die schlüpfrige Diskrepanz von Reden und Handeln angeht, hat sich in Sachen Sexualmoral bis heute wenig verbessert. Man denke an den verbreiteten Kindesmissbrauch. Mit reuigen Worten erinnerte Papst Franziskus 2018 an die fast nicht mehr zählbaren sexuellen Übergriffe von Priestern der katholischen Kirche und bat weltweit um Verzeihung. Und ähnlich wie der Pontifex kroch unlängst auch die Partei der Grünen zu Kreuze.  In einem Bericht der Aufarbeitungskommission der Berliner Grünen ist nachzulesen, welche Dimensionen Kindesmissbrauch in ihren Reihen einmal hatte. Verurteilte Pädophile bekleideten wichtige Parteiämter und der Slogan “von der einvernehmlichen Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern“ sollte ein moderner Gegenentwurf zu einer verstaubten Sittenlehre sein. Gemäß einer Untersuchung des Spiegels gab es wohl auch in den Reihen der FDP Herren, die mit solchen Standpunkten sympathisierten, auch wenn die Liberalen diesen Vorwurf von sich weisen. Sicher ist, dass die Berliner Liberalen nicht davor zurückschreckten, den heute umstrittenen Pädagogikprofessor Helmut Kentler als Redner einzuladen. Kentler war der Kopf eines Missbrauchsskandals, dessen Dimensionen bis heute nur ungenügend aufgearbeitet sind. Er kam auf die Idee, verwahrloste Jugendliche als Pflegekinder in die Obhut teils straffällig gewordener Pädophiler zu geben. Nach seiner Einschätzung eine Situation zum gegenseitigen Vorteil: Die Kinder, die er als “sekunddär schwachsinnig“ bezeichnete, hätten jemand, der sich um sie kümmert, während sie gleichzeitig den Päderasten als jederzeit verfügbares Objekt ihres Trieblebens dienten. Und eine Sahnekirsche gab es obendrauf: Die Sexualtäter erhielten für Kost und Logis der Opfer Pflegegeld – offiziell zugestellt von den Berliner Behörden. Helmut Kentler war zu seiner Zeit kein akademischer Wirrkopf, sondern eine honorige akademische Figur, dessen klandestine Kontakte bis hoch in den Berliner Senat reichten. Eine Untersuchung des sogenannten “Kentlerexperiments“, die von der Universität Hildesheim durchgeführt wurde, brachte Verstörendes ans Licht: der Skandal wurde von Behörden und Politikern gedeckt. Und bis zum heutigen Tag ist nicht wirklich klar, wer in den zweifelhaften Genuss eines “sekundär schwachsinnigen Pflegekinds“ kam. In den Kellern der Behörden schlummern noch viele nicht bearbeitete Akten. Die schwer traumatisierten Opfer, sofern sie noch leben, wurden bisher nicht entschädigt. Man hofft auf Verjährung.

Ohne zum Menschenfeind werden zu wollen, die Abgründe sexueller Scheinheiligkeit sind leider auch in modernen Gesellschaften eine feste Größe. Unabhängig von dieser bedrückenden Tatsache überrascht es aber, dass Doppelbödigkeit nicht nur im Bereich der Sitte eine diskursive Konstante ist. In der Politik ist sie genauso verbreitet wie im Hoheitsgebiet des wissenschaftlichen Argumentierens. 

Betrachten wir in diesem Zusammenhang zuerst Hengameh Yaghoobifarah, Kolumnistin der Berliner Tageszeitung, die in einem ihrer Artikel darüber nachdenkt, was man mit den 250 000 Polizisten machen sollte, falls die Polizei abgeschafft würde. Bekanntlich plädierte sie dafür, Polizistinnen und Polizisten auf der Müllhalde zu entsorgen. Dort wären sie nur von Abfall umgeben. Das wäre perfekt, da sie sich unter ihresgleichen am wohlsten fühlen würden. Diese geschmacklose Aussage führte zu extremer öffentlicher Empörung. Die Wahrheit ist: sie gehört noch zu den harmloseren. An anderer Stelle rät sie, Polizisten und Polizistinnen von Baumärkten, Tankstellen oder Kfz-Werkstätten fernzuhalten. Dort könnten sie Bomben und Brandsätze bauen. Die Botschaft dieser Zeilen ist klar: Alle Polizisten sind für Yaghoobifarah potentielle Attentäter. Doch die umstrittene Journalistin schüttet Hass und Häme nicht nur über der Polizei aus. Deutsche werden von ihr gerne als “Kartoffeln“ bezeichnet. Außerdem redet Yaghoobifarah in dem Artikel “Deutsche, schafft Euch ab!“ von der “deutschen Dreckskultur“. 

Man wundert sich, dass die Autorin in der taz eine Plattform bekommt. Die ihr zugestandene Toleranz gewährt die Zeitung nämlich nicht jedem.  2017 vergriff sich der AfD-Politiker Alexander Gauland im Ton. Er hoffte die SPD-Politikerin Aydan Özuguz, die bezweifelt hatte, dass es eine deutsche Leitkultur gibt, in Anatolien “entsorgen“ zu können.  Die taz kritisierte darauf die entmenschlichende Sprache Gaulands und zieht die Schlussfolgerung, dass AfD-Spitzenpolitikern die verbalen Grenzen zum Faschismus schnuppe sind. Die eine will Menschen auf dem Müll entsorgen, der andere eine Frau in Anatolien. Beides darf man als niveaulos bezeichnen. Beides sollte man auch in gleicher Weise unterbinden. 

Aber die Geschichte von Hengameh Yaghoobifarah ist nicht zu Ende erzählt. Ihre Inkonsistenz von Reden und Handeln wurde überdeutlich, als, von ihr initiiert,  ausgerechnet die herabgewürdigte Polizei um Personenschutz gebeten wurde. Die kleinlaut gewordene Journalistin fühlte sich dem gewaltigen Shitstorm, den sie mit ihrem Artikel ausgelöst hatte, nicht mehr gewachsen.

Nun ist eine solche Form irritierender Doppelmoral keine exklusive Eigenschaft des linken oder linksradikalen Milieus ist. Man findet sie mit der gleichen Selbstverständlichkeit am rechten Rand der Gesellschaft. Dort wird eine multikulturelle Gesellschaft gerne mit dem Argument abgelehnt, dass Ausländer Sozialleistungen erschleichen und wenn sie denn arbeiten “den Deutschen die Arbeitsplätze“ wegnehmen. Ohne Zweifel, es gibt Sozialbetrug bei Einwanderern und dieser muss genauso konsequent geahndet werden wie bei deutschen Mitbürgern, die sich auf Kosten des Staates alimentieren. Ansonsten sollte man dieses reduktionistische Weltbild aber mit einem großen Fragezeichen versehen. Es gehört zu den positiven Erkenntnissen der Corona-Pandemie, dass in einigen Schlaglichtern die Arbeitsverhältnisse in Deutschland in einem klareren Licht erschienen. So wurde deutlich, dass bei uns ohne Gastarbeiter aus Polen, Rumänien oder Bulgarien die Räder stillständen. Das gilt vor allen Dingen für Arbeiten, die wegen ihrer Härte und schlechten Bezahlung von deutschen Arbeitnehmern verschmäht werden. Wie erhellend war der Blick in die von Coronaausbrüchen betroffenen Großschlachtereien. Wie deutlich wurde der Preis, den wir für billiges Fleisch zu zahlen bereit sind. Die Bilder von Männern mit Kreissägen, die im Akkord übermannsgroße Rinderhälften in gekühlten Fabrikhallen zerlegen, wobei Blut und Knochen spritzen, haben sich eingeprägt. Und wenn die anstrengende Schicht vorbei ist, bleibt den Malochern nichts anderes übrig, als in teils vergammelten Sammelunterkünften wieder zu Kräften zu kommen. 

Ein vergleichbares Bild bei den Erntehelfern. In dem Artikel „Auf dem Gurkenflieger“ beschreibt Pauline Evers in der FAZ einige Studenten, die im Spreewald arbeiten wollten. Die anstrengende Arbeit auf dem sogenannten Gurkenflieger war allerdings recht schnell beendet. Bäuchlings auf dem Maschinenungetüm zu liegen und die Setzlinge bei schlechter Bezahlung einzugraben, hielten sie nicht lange durch. Im Gegensatz zu den rumänischen Arbeiterinnen und Arbeitern.  

“Landarbeit ist krass beanspruchend für die Muskeln“ stellte eine der Studentinnen fest, die gerne mal was unter freiem Himmel mit ihren Händen machen wollte. Aber der erhoffte ländliche Zauber war schnell verflogen. Die Studenten litten physisch und psychisch. Auch der raue Ton und die Hierarchie auf dem Feld gaben ihnen zu denken. So sinnierten sie erschöpft am Lagerfeuer, ob man nicht eine Gewerkschaft für rumänische Landarbeiter gründen müsste. 

Blinder Hass auf die Polizei, verbunden mit der Unfähigkeit die Funktion der Exekutive für den Rechtsstaat zu begreifen. Fehlender Respekt für die immense Arbeitsleistung ausländischer Arbeiter verbunden mit der Unfähigkeit zu verstehen, dass diese ein wesentlicher Teil unseres für selbstverständlich erachteten Wohlstands ist. 

Wie können Wahrnehmungsfelder so zusammenschnurren? Und wie kann man der moralisierenden Scheinheiligkeit zu Leibe rücken, deren Wesenskern es ist, stillschweigend von dem zu profitieren, was man lauthals kritisiert.

Wie es zur Verengung des Wahrnehmungsfeldes kommen könnte, lässt Yaghoobifarah in einem Gespräch anklingen, das bei Youtube aufgezeichnet ist. Während sie sich mit ihrer Gesprächspartnerin über Depressionen unterhält, gesteht sie, dass sie nur noch in ihren “Bubbles“ lebt, wenn die Schwermut an sie herankriecht. “Bubbles“ bezeichnen Filterblasen im Internet. Das sind hermetisch geschlossene Resonanzräume, in denen man die Welt aussperrt und sich nur noch mit Gleichgesinnten austauscht. Dieses Kommunikationsverhalten verengt die Perspektive und zementiert die eigenen Vorurteile. Neu ist dieses Verhalten nicht. Früher sprach man vom Stammtischgerede. Nur hat der Stammtisch jetzt eine virtuelle Dimension.

Um die mit der Scheinheiligkeit verbundene Wirklichkeitsverweigerung zu entlarven, darf man die Perspektive aber nicht verengen. Man muss sie weiten. Deshalb wäre es für Yaghoobifarah eine Überlegung wert, ob die von ihr geschmähte “Dreckskultur“ nicht auch ihr einen persönlichen Schutzraum gewährt. Eine freiheitliche Grundordnung und eine Exekutive, die für deren Einhaltung sorgt, machen nämlich das Ausleben ihrer öffentlich inszenierten Individualität erst möglich. So macht Yaghoobifarah kein Geheimnis aus ihrer nicht-binärer Geschlechtsidentität. Das ist in Deutschland weder moralisch noch rechtlich ein Problem. Doch in anderen Ländern liefe sie Gefahr, je nach sexueller Vorliebe, gehängt, gesteinigt oder zumindest ausgepeitscht zu werden. Das gilt auch für das Heimatland ihrer Eltern, die aus dem Iran stammen.

Pars pro toto sieht man sich in der Auseinandersetzung mit dieser Autorin also mit einem Paradoxon konfrontiert: Sie ruft medienwirksam zur Zerstörung des Systems auf, das sie als Publizistin in ihrer extravaganten Individualität erst möglich macht. Und schaut man genauer hin, gibt es eine weitere Doppelbödigkeit: Es ist ein nicht nur von ihr praktiziertes Geschäftsmodell, mit einer wütenden Kapitalismuskritik Kapital anzuhäufen, das in die eigene Tasche wandert. Auf dieser Klaviatur spielen auch apodiktische Zeitgeistphilosophen wie Richard David Precht oder Byung-Chul Han, die wortgewandt das Elend dieser Welt dem Kapitalismus in die Schuhe schieben, aber nicht glaubwürdig erklären, was an dessen Stelle treten sollte. Egal. Unterm Strich bleibt ein gediegen-großbürgerlicher Lebensstil, der nicht als Widerspruch zum proklamierten Denken und Handeln empfunden wird.

Egal nun ob Yagoohbifarah die Deutschen abschaffen willoder völkische Gruppen die Gastarbeiter, derart krude Aussagen brauchen einen Resonanzboden. Deshalb sind Yagoohbifarahs Artikel ohne applaudierende linke Claqueure undenkbar. Dasselbe gilt für rechte Entgleisungen. Man erinnere sich nur an Gaulands “Vogelschiss“ oder die zitierte Entsorgung von Aydan Özuguz. Auch hier darf sich der Provokateur des Beifalls der Gesinnungsgenossen sicher sein.

Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass sich trotz unvereinbarer politischer Standpunkte, die rhetorische Phrasologie der verfeindeten Apologeten gleicht. Egal ob man die linksradikale Internetplattform Indymedia liest oder den Ergüssen Jürgen Elsässers auf Compact folgt, wenn er eine Ode auf die Querdenker singt, die Extremisten wähnen die Menschlichkeit allein im eigenen Lager. Im Gegensatz dazu gerinnt ihnen die gestaltlose Masse der Andersdenkenden zum kalt-repressiven System, das diese heimelige Menschlichkeit bedroht und deshalb zu bekämpfen ist. 

Vielleicht sind es gerade solche klischeehaft-reduzierten Geschichten, die radikale Standpunkte in unserer schwierigen Welt so verführerisch machen. Um wieviel bequemer ist es, sich in ein eingängiges Narrativ zu flüchten, das als verführerisches Schmankerl noch die Illusion der moralischen Selbsterhöhung birgt, als quälendes Unwissenund verstörende Unsicherheiten auszuhalten, die zwangsläufig auftauchen, wenn man sich über schwierige Probleme den Kopf zerbricht?

Herz schlägt Hirn. Doch  trivialisierend-eingängigen Weltsichten müssen mit Vorsicht genossen werden. Sie können eine virusartige Dynamik entfalten. Das legt zumindest das Memetik-Konzept des britischen Evolutionsbiologen Richard Dawkins nahe. Meme sind in diesem Zusammenhang Gedanken, die von Menschen kommuniziert werden. Das können elegante Theorien sein aber auch irrationale Hirngespinste. Entscheidend für Ihre Verbreitung ist nicht ihre Sinnhaftigkeit sondern einzig ihr Replikationserfolg. Und gefährlich werden sie dadurch, dass spleenige Fiktionen Fakten schaffen können. Viele Querdenker verneinen die Gefährlichkeit des Corona-Virus und impfen geneigte Geister mit ihren teils abstrusen Theorien. Das aus diesen Theorien abgeleitete verantwortungslose Verhalten hilft dann dem echten Virus erst richtig auf die Sprünge.

Jetzt muss betont werden, dass opportuner Moralismus kein Alleinstellungsmerkmal radikaler Gruppierungen ist. Man findet ihn auch im gemäßigten politischen Milieu. Davon zeugt zum Beispiel die heutige Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen in ihrer früheren Funktion als Verteidigungsministerin. Es ist bekannt, dass sich die deutsche Bundeswehr momentan in einem maladen Zustand befindet. Bei Manövern müssen Grenadiere mit geliehenen VW-Bussen durchs Gelände heizen, da die Schützenpanzer Puma gerade nicht zur Verfügung stehen. Die Pannenflieger der Bundeswehr haben es zu trauriger Berühmtheit gebracht. Wir besitzen zwar exquisite U-Boote aber die meisten sind nicht einsatzfähig. Man unterließ es einen Wartungsvertrag abzuschließen. Vom Hick-Hack um das neue Sturmgewehr wollen wir nicht weiter reden. Die Gründe für diese Peinlichkeiten sind vielfältig. Bis vor einigen Jahren fehlte es der Bundeswehr an Geld, im Moment leidet sie wohl an einem extrem ineffizienten Beschaffungswesen.

Frau von der Leyen schickte sich an, diese ohnehin schon kritische Situation zu verschlimmern. Sie kämpfte, brav am gesellschaftlichen Commen-Sense orientiert, in der Bundeswehr für mehr “Gleichheit und Gerechtigkeit“. Es war ihr Bestreben, die Einstellungs- und Ausbildungsanforderungen soweit zu senken, dass von der Armee fast niemand mehr ausgeschlossen wird. Alle sollten mitmachen dürfen, egal ob die Bewerber übergewichtig waren oder wegen ihrer schwächlichen Konstitution keinen Rucksack tragen konnten. Von der Leyens verquere Logik war in diesem Zusammenhang nur für sie selbst schlüssig: Wenn die gefürchteten Gewaltmärsche mit schwerem Gepäck, die reale Einsatzbedingungen simulieren sollen, von vielen jungen Menschen in schlechter körperlicher Verfassung, nicht mehr bewältigt werden können, dann sorgt man nicht dafür, dass die Überforderten belastbarer werden, man schafft einfach die Märsche ab! Eine solche Logik ist gerade ja salonfähig. Wenn die Berliner Schüler als Opfer eines völlig aus den Gleisen gesprungenen Bildungssystems schlechte Noten schreiben, dann wird einfach weniger hart zensiert und schon sind die Berliner so gut wie Bayern und Sachsen. Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt. Nur ist eine solche Form der Pippi Langstrumpf-Philosophie im Falle der Rekrutenausbildung kein Spiel. Die sich dem Zeitgeist anbiedernde Einstellung kann für Soldaten im wirklichen Einsatz tödliche Konsequenzen haben. Wie sieht es mit dem Segen der Gleichmacherei aus, wenn den müden Kriegern auf der Flucht im Gebirge beim ersten Anstieg die Puste ausgeht und sie von zähen Taliban verfolgt werden, die in den Bergen groß geworden sind und schon dass Messer wetzen? Dann wird das Motto “Dabei sein ist alles“ zum lebensgefährlichen Zynismus. Bleibt zu hoffen, dass Annegret Kramp-Karrenbauer die Denkfehler ihrer Vorgängerin korrigiert.

Man ist damit zu einer ernüchternden Einsicht gezwungen: In einer medialen Selbstvermarktungsgesellschaft scheint moralisierende Wirklichkeitsverweigerung gesellschaftsfähig zu sein. Das gilt selbst im Hoheitsgebiet der Wissenschaft. 

Sollen wir in der Coronakrise eine Maske tragen oder nicht? In einer aufgeheizten Diskussion zeigt sich, dass es offensichtlich schwierig ist, mit dem mathematischen Konzept der Wahrscheinlichkeit umzugehen. Die fehlerhafte Argumentationsfigur kennt man aus der Kontroverse ums Rauchen. Aus der Tatsache, dass Helmut Schmidt und Winston Churchill als Kettenraucher ein biblisches Alter erreichten, folgt nicht, dass Rauchen ungefährlich ist. Entscheidend sind nicht singuläre Schicksale. Entscheidend sind Mittelwerte über einem großen Stichprobenraum. Regelmäßiges Rauchen verkürzt das Leben bei Männern im Schnitt um 9,4 Jahre. Punkt. 

Der Trugschluss beim Maskentragen funktioniert ähnlich. Kommt es zu einer Infektion, obwohl Masken getragen wurden, bedeutet das nicht, das sie unnütz sind. Es zeigt nur, dass der Schutz nicht vollkommen ist. Im Schnitt verringert das Tragen der Maske das Infektionsrisiko durchaus. Das ist augenfällig, wenn man seinen Blick nach Asien richtet. Man kann sich aber auch mit einem schlichten Gedankenexperiment helfen. Es wird argumentiert, dass die Viren auf den Aerosolen das Maskengewebe einfach passieren, weil sie so klein sind. Stellen sie sich vor, sie stehen mit einem Wäschekorb voll Tischtennisbällen in einem sonst leeren Zimmer an einer Wand und schlagen die Bälle mit einem Schläger irgendwie zur gegenüberliegenden Wand! Jetzt spannen in der Mitte des Raums vom Boden bis zur Decke eine Art Tennisnetz, dessen Maschengröße so beschaffen ist, dass die Tischtennisbälle hindurchgehen. Nun wiederholen sie das Prozedere. Preisfrage: Kommen mit gespannten Netz genauso viele Bälle an der anderen Wand an? Nein. Die Wahrscheinlichkeit ist gesunken. Genauso wie die Wahrscheinlichkeit einer Infektion sinkt, wenn man eine Maske trägt.

Nun ist der Kampf um die Maske nur ein aktuelles Beispiel, bei dem Moralisten versuchen, die Wissenschaft aus dem Feld zu schlagen. Viele andere haben eine längere Tradition. Man denke etwa an den erbitterten Widerstand gegen Tierversuche in der Grundlagenforschung, bei dem radikale Tierversuchsgegner auch vor üblen Verleumdungen nicht zurückschrecken. Das ist befremdlich. Denn auch sie profitieren mit größter Selbstverständlichkeit von den Segnungen der Medizin, die sich in großem Maße Forschungsarbeiten verdanken, die auf Tierexperimenten basieren.

Um hier den Blick zu weiten und damit die Bedeutung von tierexperimenteller Forschung zu verstehen, machen wir eine kurze Zeitreise in die Anfänge des 19. Jahrhunderts. Die damalige Lebenserwartung betrug traurige 35 Jahre. Die Zustände, die zu dieser Zeit in der Medizin herrschten, sind heute nicht mehr vorstellbar. Da es keine Narkose gab, wurde selbst die Amputation eines Beins bei vollem Bewusstsein durchgeführt. Zwei Helfer hielten den panisch-brüllenden Patienten fest, der Arzt durchschnitt mit einem großen Messer das Fleisch bis zum Knochen, um dann mit einigen Streichen der Säge das Bein vollständig zu durchtrennen. Da es kein Wunddesinfektion gab, verstarb ein großer Teil der auf diese Weise behandelten Menschen. Die Chance, einen Krankenhausaufenthalt zu überleben lag damals bei etwa zehn Prozent. Die Patienten verfaulten bei lebendigem Leibe in überfüllten Zimmern, in denen die Ratten über den Boden liefen und die Wunden von Fliegen bewimmelt waren. Viele der tödlichen Wundinfektionen kennen die meisten Menschen heute nicht einmal mehr vom Namen: Gangrän, Pyämie, Erysipel

Die Entwicklung von Anästhetika, Desinfektionsmitteln oder Garnen, mit denen sich  Wunden verschließen ließen, halfen, den Horror einzudämmen. Überall spielten Tierversuche in der Erforschung dieser segensreichen Erfindungen eine wichtige Rolle. Und ganz allgemein ist ihre Bedeutung auch in der modernen Medizin evident. Würde die von Tierversuchsgegnern kolportierte Überzeugung stimmen, dass sich Erkenntnisse aus Tierversuchen nicht auf die Humanmedizin übertragen lassen, dürfte heute kein einziges modernes Lehrbuch existieren!

Diese Überzeugung ist falsch und der logische Fehler gleicht der oben angeführten Argumentationsfigur. Aus der Tatsache, dass einige Ergebnisse von Tierversuchen nicht auf den Menschen übertragbar sind, folgt nicht, dass Tiere in allen Belangen anders funktionieren als Menschen. Selbst eine banale Hefezelle hat mehr mit uns gemein als die meisten denken. Trotz dieses offenkundigen Sachverhalts wähnen sich radikale Tierversuchsgegner im Recht und schrecken nicht vor Beleidigung und der Androhung von Gewalt zurück, um ihren Standpunkten Nachdruck zu verleihen. Prominentestes Beispiel ist der weltweit renommierte Gehirnforscher Nikos Logothetis, der nachweislich als “Nazi“, “Teufel“ und “Mörder“ beschimpft wurde, wobei man ihm sogar drohte ihn mit einer Eisenstange zu erschlagen, wenn er sich vor die Haustür wagen würde. Logothetis wurde als emotionslose narzisstische Forscherpersönlichkeit gescholten, dessen abstruse Forschung für Menschen keinen Erkenntniswert besitzt und nur dazu dient, sein eigenes Ego zu pudern. Die Wahrheit sieht anders aus. Logothetis war maßgeblich bei der Entdeckung des sogenannten BOLD-Effekts beteiligt. Dieser Effekt wird heute überall auf der Welt in der funktionellen Bildgebung verwendet, um Karzinome, Herzprobleme oder Schlaganfälle zu entdecken und rechtzeitig zu behandeln. Die Zahl der Menschen, die aufgrund dieser Früherkennung bisher gerettet wurden, dürfte in die Millionen gehen. Soviel zur angeblich wertlosen Grundlagenforschung. Logothetis hat auf alle Fälle dem psychischen Druck und der Verlogenheit nicht mehr standhalten können und wird Deutschland in Kürze verlassen.

Man sieht also, was auf dem Spiel steht. Wird moralischer Druck ausgeübt, der auf der Gefühlsebene punkten will, sich aber um die komplexe Faktenlage nicht schert, stehen wichtige Teile unserer Gesellschaft zur Disposition. Wollen wir tatsächlich einen Staat, bei dem die Gewaltenteilung im Grundgesetz steht, der aber auf die Polizei verzichtet? Wollen wir ein völkisch- bierseliges Deutschland? Wollen wir eine politisch korrekte Bundeswehr, die aber ihrem Verteidigungsauftrag nicht mehr gerecht werden kann? Und wollen wir auf eine effiziente medizinische Forschung verzichten? Vermutlich nicht. Deshalb muss moralisierende Scheinheiligkeit demaskiert werden. Man darf ihr nicht nachgeben, auch wenn es bequem ist, mit dem Rudel zu heulen.

Stattdessen müssen die Konsequenzen reduzierter Weltbilder von einer höheren Warte durchdacht, gewertet und artikuliert werden, um dann die Moralprediger mit diesen in aller Deutlichkeit zu konfrontieren  Und im nächsten Schritt muss die Frage erlaubt sein ob sie persönlich bereit wären, die Risiken, die sich aus ihren Anschauungen ergeben, zu tragen. In diesem Zusammenhang nur zwei Fragen: Gesetzt den Fall, Frau von der Leyen hätte die Armee während ihrer Amtszeit als Verteidigungsministerin nicht vom Feldherrenhügel betrachtet sondern wäre gezwungen gewesen, in Afghanistan mitzukämpfen. Dann hätte auch ihr eigenes Leben davon abgehangen, ob die Truppe einsatzfähig ist. Wäre sie bei ihrem weltfremden Standpunkt geblieben? Und würden radikale Tierschützer bei ihrer Sichtweise bleiben, wenn sie sich sämtlichen Segnungen der modernen Medizin konsequent enthalten müssten? Vermutlich kämen selbst Hardliner zur Einsicht, dass Handeln und Reden zwei verschiedene Dinge sind, wenn vor einem großen Eingriff bei Ihnen das Narkosegerät ausbleibt und der Chirurg das Skalpell zum Schnitt ansetzt. 

Von der Zeit und dem Mut ein Anderer zu werden

“Wenn man zwei Stunden lang mit einem Mädchen zusammensitzt, meint man, es wäre eine Minute. Sitzt man jedoch eine Minute auf einem heißen Ofen, meint man, es wären zwei Stunden. Das ist Relativität.“

Der Physiker Albert Einstein war berühmt für seine Bonmots. Einige hundert sind erhalten. Man darf allerdings vermuten, dass er den einen oder anderen Spruch benutzte, um sich lästige Fragesteller elegant vom Hals zu schaffen. Einstein, der lange Jahre nicht einmal ein Telefon besaß, schätzte es, beim Nachdenken in Ruhe gelassen zu werden. Öffentliche Auftritte, vor allen Dingen Gespräche mit Journalisten, waren ihm eher notwendige Pflicht. In diesem Sinne ist auch das Ofenzitat aufschlussreich. Vermutlich wollte der Fragesteller eine anschauliche und bündige Darstellung von Einsteins Relativitätstheorie. Zum Verständnis dieses abstrakten Gedankengebäudes, braucht man allerdings ein gerüttelt Maß an mathematischer Bildung. Um nun nicht etwas zu banalisieren, was sich nicht banalisieren lässt, griff Einstein zu einer List. Er wählte ein Beispiel über die Relativität der Zeit, das jeder Mensch sofort nachvollziehen kann. Doch wenn man ehrlich ist, gibt es ein Problem: Das von Einstein gewählte Beispiel hat mit der Relativität der Zeit in seinen Theorien überhaupt nichts zu tun. Trotzdem hat das Schlitzohr nicht gelogen. Einstein sprach einfach nur von Relativität der Zeit, bezog diese aber auf Zeitempfindungen. Unterschiedliche Zeitempfindungen sind allerdings etwas anderes, als Gangunterschiede zueinander bewegter Uhren, die in der Relativitätstheorie eine zentrale Rolle spielen.

Schon an dieser Stelle ahnt man, dass das Nachdenken über die Zeit in einen Irrgarten führen kann. Und dieses Gefühl verstärkt sich noch, wenn man dem Ofenzitat ein anderes von Einstein gegenüberstellt. Dort sagte er kurz angebunden: 

“ Zeit ist das, was man auf der Uhr abliest“. 

Jetzt sitzen wir in der Falle. Dieses Zitat steht ganz offensichtlich in einem Widerspruch zum ersten. Warum? Das kurzweilige Beieinandersitzen mit dem Mädchen und die schmerzhafte Folter auf dem heißen Ofen unterscheiden sich um einen gehörigen Faktor. Das wird offensichtlich, wenn man gleiche Zeitintervalle miteinander vergleicht. Würde man wie beim kurzweiligen Rendezvous ganze zwei Stunden auf dem Ofen schmoren, dann kröche die Zeit dort fast 15.000 mal langsamer! Wenn Zeit aber einfach das ist, was man auf der Uhr abliest, dann sind zwei Stunden zwei Stunden. Wie lässt sich dieser Widerspruch lösen? Indem man ein kleines Wörtchen streicht. Nämlich den bestimmten Artikel “die“. Die Frage “Was ist die Zeit“ führt nicht weiter. Die Zeit gibt es nicht. 

Es gibt allerdings unterschiedliche Zeitkonzepte, die wir gewöhnlich mit einer gewissen Leichtfertigkeit unter dem Terminus “Zeit“ subsummieren. Zwei der wichtigsten haben wir gerade kennengelernt. Diese könnte man als “objektive“ oder “physikalische“ im Unterschied zur “subjektiven“ Zeit bezeichnen. Persönlich finde ich diese geläufigen Bezeichnungen nicht so hilfreich, weshalb ich lieber die etwas sperrigeren aber genaueren Bezeichnungen konstruierte und empfundene Zeit verwenden möchte. Beide Zeitkonzepte sind für uns moderne Menschen von großer Bedeutung und es ist wichtig zu verstehen, wie eng diese mit unserem Leben verwoben sind.

Beginnen wir mit der konstruierten Zeit! Das wäre gemäß Einstein die Zeit, die man auf der Uhr abliest. Leider ist Einsteins “Erklärung“ in diesem Zusammenhang nicht wirklich befriedigend. Sie ersetzt ein Fragezeichen durch ein anderes. Um zu wissen was die Zeit ist, müsste man wissen, was eine Uhr ist. Ist diese tatsächlich ein Zeitmesser? Ist die Zeit also Teil einer vom Beobachter unabhängigen Wirklichkeit, die sich mittels eines Messgeräts, genannt “Uhr“ ermitteln lässt? Durchwebt sie alle Teile des Wirklichen und ist in dieser Form Ausdruck einer absoluten Zeit, die jedem noch so kleinsten Partikel des Seins den Takt schlägt? 

Die Idee, dass die Zeit eine eigenständige Existenz hat, geht vor allen Dingen auf den Philosophen Platon zurück. Doch genau diese Idee, die in verwandelter Form auch bei Isaac Newton auftauchte, der von einem absoluten Raum und einer absoluten Zeit sprach, wurde von Einstein widerlegt. Dieser zeigte nämlich, dass die Zeiten, die verschiedene Beobachter auf ihren Uhren ablesen, von ihren relativen Bewegungszuständen abhängen. Deren Messungen, das muss betont werden, sind aber alle gleich gültig. Nur eine hervorzuheben und für absolut zu erklären, wird deshalb im Lichte der Relativitätstheorie zu einem Akt von Menschen gemachter Willkür.

Deshalb scheinen Uhren doch etwas anderes zu sein. Aber was? Da wäre als erstes festzuhalten, dass schon in der Jungsteinzeit viele Kulturen wussten, dass das täglich wahrnehmbare Himmelsspektakel eine Mischung aus Chaos und Ordnung ist und damit zumindest in Teilen als Taktgeber fungieren kann. Die Wechselwendigkeit des Wetters ist unterlegt von Rhythmen, die eine eherne Regelmäßigkeit zu besitzen scheinen: dem Sonnentag, dem Mondmonat und der jährlichen Umdrehung der Erde um die Sonne. Diese Zyklen kann man Kalendersystemen zugrunde legen. Doch für genauere Zeitbestimmungen sind sie nur bedingt geeignet, da sich zum Beispiel der Tag nicht so exakt unterteilen lässt. Wie lässt sich der Tag genauer strukturieren? Die Menschen machten sich vor der Erfindung der Uhren vor allen Dingen biologische Rhythmen zunutze. Die Andamanen, die auf einer östlich von Indien gelegenen Inselgruppe im Urwald leben, haben extrem empfindliche Nasen und strukturieren bis heute Jahres- aber auch Tageszeiten nach Gerüchen. So kann eine Zeitangabe lauten: Wir treffen uns am nächsten Tag, wenn die Zibetfrucht am stärksten riecht. In Europa waren sogenannte Blumenuhren verbreitet. Hier machte man sich den Umstand zunutze, dass verschiedene Blumen ihre Blüten zu verschiedenen Zeiten des Tages öffnen und wieder schließen. Auch auf diese Weise war es möglich, den Tag zeitlich zu differenzieren. Es ist in unserem Zusammenhang aber wichtig, dass man sich zur zeitlichen Orientierung natürlicher Rhythmen bediente und diese noch nicht künstlich herstellte. Das gilt auch im Fall der bekannten Sonnenuhr, bei der ein Stock, ein sogenannter Gnomon, in Abhängigkeit vom Sonnenstand einen Schatten wirft. Den verschiedenen Positionen des Schattens lassen sich Zahlen oder Zeichen zuordnen, die man dann benutzen kann, um Zeitpunkte festzusetzen. 

Doch der Nachteil von Sonnenuhren ist offensichtlich: Sie funktionieren nur an unbewölkten Tagen. Künstlich hergestellte Uhren besitzen solche Nachteile nicht. Betrachten wir in diesem Zusammenhang die Klepshydra, die Wasseruhr. Diese gibt es in verschiedenster Bauart. So kann aus einem oberen Gefäß Wasser durch eine Öffnung in einen Auffangbehälter laufen, der mit Maßstrichen versehen ist. Der Füllstand des Auffangbehälters, wird dann mit einer Zeitdauer korreliert. Am Beispiel der Klepshydra lassen sich viele Eigenschaften verstehen, die auch für moderne Uhren typisch sind. Das beginnt mit ihrem Zweck. In der Antike wurden sie häufig verwendet, um die Redezeiten vor Gericht zu begrenzen, sodass alle Parteien dieselbe Zeit hatten, ihre Standpunkte vorzubringen. Auf diese Weise ließ man Gerechtigkeit walten. Die Uhr diente also dazu, gemeinschaftliches Handeln zu strukturieren und zu steuern. Wie müssen die Uhren beschaffen sein, um dieser Aufgabe genügen zu können? Sie müssen vergleichbar sein, also gleich schnell gehen! Diese Forderung ist aber nur gegeben, wenn man sie normiert. Hätten vor Gericht Kläger und Verteidiger Wasseruhren, die unterschiedlich schnellliefen, würden gleiche Füllstände unterschiedlichen Zeitdauern entsprechen. Damit wäre eine der Parteien im Vorteil, die andere im Nachteil. Um die Uhren vergleichbar zu machen, braucht es nun handwerkliches Geschick. In den Auffangbehältern sollen die zeitlichen Markierungen, die mit den Füllständen korrelieren, gleichen Volumina entsprechen und außerdem müssen die Durchlauföffnungen so beschaffen sein, dass durch sie gleich viel Wasser pro Zeit hindurchfließt. 

Obwohl wir hier erstmals der Normierung von Uhren begegnen, die gewährleisten, dass Zeitdauern, die von verschiedenen Geräten angezeigt werden, vergleichbar sind, mussten noch viele Jahrhunderte vergehen, bis Uhren auftauchten, die den in unserer Zeit gebräuchlichen ähneln. Diese kamen erstmals an einem Ort zur Anwendung, wo man am wenigsten mit ihnen gerechnet hätte. Den Benediktinern, die uns heute von den Etiketten der Bierflaschen anlächeln, verdanken wir nämlich nicht nur die Geheimnisse der Braukunst und sorgsam gepflegte Kräutergärten, sondern auch den mit der Uhr überwachten Stundenplan. 

Es war Benedikt von Nursia, der mit seinen strikten Ordensregeln eine Revolution in Gang setzte, die uns bis zum heutigen Tage mitreißt und für alle Zeiten aus Arkadien vertrieben hat. Diese Revolution ist so tiefgreifend, dass Benedikt neben Jesus und Pythagoras zu den Menschen gehört, die unser westliches Leben mit der größten Nachhaltigkeit geprägt haben. 

Benedikt war Zeitverschwendung ein Gräuel. Die Zeit gehörte Gott. Jede Sekunde war kostbar: Seine Notdurft verrichten, den Kopf rasieren, den Herren preisen und die Mahlzeiten zu sich nehmen, alles hatte seinen von Benedikt festgesetzten Zeitpunkt. Um diesen rigiden Stundenplan einhalten zu können, suchte man einen verlässlichen Taktgeber. Und so waren es die Benediktiner, die die ersten Uhren mit Hemmung erfanden. Da nun die Ordensregeln für alle Benediktinerklöster verbindlich waren, war es darüber hinaus notwendig, gleichlaufende Uhren zu bauen. Diese schlugen allen Mönchen zur rechten Zeit die Stunden. 

Gerade in diesem Zusammenhang wird deutlich, dass es bei der Verwendung von Uhren nicht darum geht, “die Zeit zu messen“. Es geht darum, verlässliche Maschinen zu konstruieren, damit verschiedene Menschen in der Lage sind, ihre Handlungen zu koordinieren und so komplexe soziale Zusammenhänge zu schaffen.

Außerdem wird offenbar, dass den natürlichen Rhythmen wie Tag, Monat und Jahr menschengemachte zeitliche Metriken eingewoben werden, die eigentlich mit Willkür behaftet sind: Stunden, Minuten, Sekunden sind keine natürlichen Maße, sondern verdanken sich einer künstlichen Definition und Setzung. 

Das Geheimnis der raffiniert konstruierten künstlichen Uhren blieb der Welt außerhalb der Klostermauern natürlich nicht verborgen. Bald kamen sie in das Blickfeld der Unternehmer und Kaufleute, die schnell verstanden, dass sich mit deren Hilfe Fertigungsprozesse effizienter gestalten ließen. Das Ergebnis ist uns allen bekannt: Was als Schrulle eines Mönchs begann, hat sich heute zu einem Moloch gewandelt, vor dem es kein Entrinnen mehr zu geben scheint. Wer in unserer Zeit unternehmerisch erfolgreich sein möchte, muss sich den Spielregeln des Marktes unterwerfen. 

Zu diesen gehört es, zu konkurrenzfähigen Preisen zu produzieren. Und da die Arbeitszeit zu den Kosten gehört, muss diese so effizient wie möglich genutzt werden. Von der noch im Mittelalter üblichen Praxis, ein Werkstück fertig zustellen, wenn man gerade Lust hatte, sind wir heute Lichtjahre entfernt.

Bleibt noch auf die Funktion der Uhren in der Wissenschaft hinzuweisen. Stellen wir uns dazu den alten Galilei vor, der in der Renaissance wissen wollte, wie lange eine große Holzkugel braucht, die man eine lange schiefe Ebene herunter rollen lässt. Was muss man in diesem Zusammenhang messen können? Auf alle Fälle Winkel, Höhen und Längen. Die dazu notwendigen Messinstrumente waren zu seiner Zeit bekannt. Aber kann man mit diesen eine Bewegung messen? Nein, dazu braucht man eine Uhr. So wie ein Maßstab ein standardisiertes Längenmaß ist, so braucht man eine standardisierte Bewegung, mit der man die zu messende Bewegung vergleichen kann. Dass kann wie bei einer Wasseruhr ein gleichmäßiger Fluss sein oder eben eine gleichmäßig periodische Schwingung, wie bei den meisten modernen Uhren. 

Wie wenig selbstverständlich dieses Konzept ist, wird klar, wenn man sieht, mit welchen Schwierigkeiten der tapfere Galilei zu kämpfen hatte. Angeblich verwendete er zuerst ein bekanntes Kinderlied, um die Zeitdauer zu ermitteln, die die Kugel von oben nach unten brauchte. Er ließ sie oben los, sang und merkte sich die Silbe, wenn sie unten war. Die Ergebnisse waren aber unbefriedigend. Und auch sein unregelmäßiger Herzschlag taugte nicht als verlässliche Uhr. Erst als er ein Fadenpendel verwendete, wurden die Ergebnisse besser. Heutige Uhren sind milliardenfach genauer und geben den Naturgesetzen eine immer präzisere Gestalt. Wichtig ist in diesem Zusammenhang aber, dass wir Naturgesetze formulieren, die sich in Messgrößen ausdrücken lassen, die wir in großer Genauigkeit handwerklich zu kontrollieren wissen. Am Anfang auch der abstraktesten Gesetze steht ein elaboriertes Konstruktionswissen.

Unterm Strich sind Uhren also in erster Linie vom Menschen hergestellte Werkzeuge. Sie sollen seinen Zwecken genügen. Wir brauchen sie, um unser hyperkomplexes modernes Leben bis in den Nanosekundenbereich zu organisieren. Außerdem sind sie notwendig, um exakte Naturgesetze zu formulieren und anzuwenden.

Aber, erfassen die allgegenwärtigen Uhren damit wirklich die Aspekte des Zeitlichen, die für uns Menschen wichtig sind? Oder ist es ein folgenschwerer Trugschluss moderner Industriegesellschaften, dass wir die Zeit auf einem Zifferblatt ablesen können, um sie im nächsten Schritt nach eigenem Gutdünken zu sparen oder zu vergeuden? Das Einsteinsche Diktum, Zeit sei das, was man auf einer Uhr abliest, ist auf alle Fälle nur die halbe Wahrheit. Für ein erfülltes Leben sind andere Aspekte des Zeitlichen entscheidender.

Beginnen wir zur Erläuterung mit einer Empfindung, die alle kennen. Jeder erwachsene Mensch erinnert sich an Augenblicke seiner Kindheit, in der Zeit etwas ganz anderes war als heute. Das war eben nicht das monotone Klicken der Uhrwerke, die der organisierten Welt der Erwachsenen den Takt schlagen. Zeit hatte etwas Ungestaltetes, glich eher einem warmen See, in dem man sich genüsslich treiben ließ. Wie ist es möglich, aus diesem Paradies vertrieben zu werden? Warum ändert sich unser Zeitgefühl so radikal mit dem Älterwerden? Spätestens in der Lebensmitte, wenn der Blick von der Gegenwart immer öfter in die Vergangenheit schweift, machen wir eine befremdende Erfahrung: Die Zeit beginnt zu rasen. Lag früher zwischen Weihnachten und Weihnachten eine Ewigkeit, schrumpft dieser Zeitraum immer mehr zu einem Nichts. Gerade das immer schneller scheinende Auftreten gleichartiger Ereignisse, Weihnachten, Sylvester, der eigene Geburtstag oder die obligatorischen Ferien, lehrt uns das Fürchten. Wir spüren, dass wir mit beschleunigtem Schritt dem eigenen Ende entgegen fliegen. Wie kann das sein, in einer Welt der Uhren, die alle gleichmäßig ticken? 

Diese für uns so einschneidende Empfindung hat mit der Ganggenauigkeit der Chronometer am Handgelenk wenig zu tun. Tatsächlich steht in unserer Effizienzgesellschaft das falsche Zeitmaß im Fokus. Das Leben mittels einer Uhr zu verwalten wird ja in den Rang einer Kunst erhoben. “Effektives Zeitmanagement“ lautet das Schlagwort der Stunde. Und Knappheit von Zeit ist geradezu zum Statussymbol geworden. Über ungeplante Zeit verfügt nur der Nichtsnutz. Der gesellschaftliche Gegenentwurf, der von der eigenen Wichtigkeit narkotisierte Macher, plant Meetings im Viertelstundentakt und auf dem Laufband im Fitnessstudio werden noch Vokabeln gepaukt. Ärgerlich, dass man nachts schlafen muss und diese Zeit nicht besser nutzen kann. Aber betrügt man sich auf diese Weise nicht um sein eigenes Leben? Die empfundene Zeit, die mit der Lebensqualität so eng verwoben ist, spielt im hektischen Leben der meisten Erwachsenen eine untergeordnet Rolle. Berufliche Anspannung, Freizeitstress und familiäre Pflichten nähren das Bedürfnis, sich straff zu organisieren. Und das Mittel der Wahl ist eben die Uhr. 

Aber erfüllt empfundene Zeit ist keine tickende Mechanik. Sie hängt davon, mit welchen Augen wir die Welt betrachten und wie wir uns in dieser bewegen. Da stellt sich die Frage, ob das Phänomen der rasenden Zeit zwangsläufig ist oder ob wir die Möglichkeit haben, uns ein kindliches Zeitgefühl zu erhalten?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns mit einem rätselhaften Phänomen beschäftigen, dem “subjektiven Zeitparadoxon“. Dieses ist noch tiefgründiger als das Einsteinsche Ofenbeispiel, da es sich nicht nur mit unterschiedlich empfundenen Zeitdauern in der Gegenwart beschäftigt. Es wird auch hinterfragt, wie wir diese in der Rückschau einschätzen. Bemerkenswerter Weise stehen in diesem Zusammenhang gefühlte Gegenwart und erinnerte Vergangenheit in einem widersprüchlichen Verhältnis zueinander. In Momenten der Versenkung, wenn wir von einer Tätigkeit ganz gefangen sind und das Vergehen der Zeit gar nicht spüren, bläht sie sich diese in der Rückschau zum intensiv empfundenen Leben auf. Ganz anders, wenn wir in der Gegenwart zähe Langeweile empfinden. Dann verflüchtigt sich die Zeit im Rückblick zu einem Nichts. Das Leben fliegt an uns vorüber. 

Um das rätselhafte Zeitparadoxon zu dechiffrieren, beschäftigen wir uns zuerst mit dem tiefgründigen deutschen Wort “merkwürdig“. Leider hat dieses einen Beigeschmack: “Merkwürdig“ wird gerne mit “suspekt“ in einen Topf geworfen. Hier aber soll es anders aufgefasst werden und zwar im Sinne von “des Merkens würdig“. 

Etymologisch bedeutet “merken“, eine “Marke zu setzen“. Vor diesem Hintergrund können wir eine Beziehung zur Funktionsweise unseres Gehirns herzustellen. Merkwürdig sind also Erfahrungen, die von unserem Gehirn für würdig befunden werden, eine Marke zu hinterlassen. Das bedeutet, dass diese, in den Synapsen gespeichert, zur Erinnerung werden. 

Doch zur Auflösung des Zeitparadoxons bedarf es noch eines weiteren Schritts. Wir müssen sorgfältig zwischen Lernen und Können unterscheiden. 

Lernen ist immer ein Wagnis, da man sich mit Dingen beschäftigt, die man noch nicht kann. Würde man sie können, bräuchte man sie nicht zu lernen. Daraus ergibt sich zwangsläufig, dass wir uns beim Lernen immer wieder mit neuen Begebenheiten auseinandersetzen müssen. Im Gegensatz dazu zeichnet sich Können in den meisten Fällen durch das Ausführen bereits erlernter Routinen aus.

Jetzt erinnern wir uns, dass das Gehirn an vorderster Stelle ein Lernorgan(!) ist,  das Neuigkeiten liebt und Altbekanntes mit emotionsloser Routine erledigt. Beschäftigen wir uns nun in der Gegenwart mit Dingen, die wir noch nicht kennen, die neu für uns sind, dann läuft das Gehirn zu Höchstform auf. Das Neue ist des Merkens würdig und wird gespeichert. Ganz anders als die öde Routine, die ja bereits im Gedächtnis abgelegt ist. Das Gehirn bleibt hier in einem gelangweilten Stand-By-Modus. Wozu Energie für etwas aufbringen, das schon verinnerlicht ist?

Vor diesem Hintergrund verliert das subjektive Zeitparadoxon seine Widersprüchlichkeit. Das Zeitgefühl in der Gegenwart wird vor allen Dingen von den Pausen geprägt, die zwischen den Merkwürdigkeiten auftauchen. Sind die Pausen zwischen den neuen Eindrücken kurz, fliegt die Zeit, sind sie dagegen lang, weil nichts Interessantes passiert, wird die Zeit zum zähen Fluss. Erinnert werden aber nicht die Pausen, sondern das, was für das Gehirn erinnerungswürdig war: Das Unbekannte, das Unerwartete, das Neue. Das Immergleiche aber verschwindet spurlos im Orkus des Vergessens.

Jetzt wird klar, warum kindliches und erwachsenes Zeitgefühl so unterschiedlich sind. Für das Kind hat die Freude am Neuen eine fast rauschartige Qualität. Beim Entdecken der Welt sind Kinder so gefangen, dass sie das Vergehen der Zeit in der erlebten Gegenwart nicht spüren. Aber in der Rückschau dürfen sie sich über eine reiche Ernte freuen. Bei den Erwachsenen sieht das anders aus. Routinen haben sich ins Leben geschlichen. Deshalb wird die Gegenwart oft als ereignislos und langweilig empfunden. Und in der Rückschau, kann man sich eigentlich nicht erinnern, was man getan hat. Nur wenig, was des Merkens würdig gewesen war. Einprägsam ist in diesem Zusammenhang besonders die sogenannte Pendleramnesie: Der Wunsch, ein Häuschen im Grünen sein Eigen zu nennen, kann ernsthafte Konsequenzen für das persönliche Wohlergehen haben, zumindest bei denen, die gezwungen sind, lange Wege zur Arbeit zu fahren. Man hat festgestellt, dass genervte Berufspendler im Stau eine Konzentration von Stresshormonen im Blut haben, die höher ist als die von Kampfbomberpiloten. Noch bedenkenswerter aber ist, dass diese Stunden im Auto wie von Geisterhand aus der Erinnerung getilgt werden. Wer denkt da nicht an die Zeitdiebe aus dem Kinderbuch Momo. Je nachdem wie viel man fährt, können sich auf diese Weise ganze Lebensjahre im Nichts auflösen. 

Aber was soll man machen gegen die gleichmacherischen Zwänge der Routinen? Es ist doch unvermeidbar, dass das Leben im Erwachsenenalter nicht mehr so unverbraucht daherkommt wie bei einem Kind. Der Zauber der ersten Male liegt weit zurück: Die ersten Ferien am Meer, das erste Mal im Zirkus, der erste Schultag, der erste Kuss. Sind wir deshalb den Routinen, diesen Zeitfressern auf leisen Sohlen, ausgeliefert? Sparen wir nur auf der Uhr Zeit, während wir unser gelebtes Leben atomisieren? 

Um diese Fragen zu beantworten, muss man seine persönliche Lebenseinstellung auf den Prüfstein stellen. Natürlich schlagen sich bewährte Einsichten und Fertigkeiten in Routinen nieder und ersparen uns die mühselige Arbeit, das Leben gemäß neuer Erkenntnisse immer wieder neu organisieren zu müssen. Doch leider hat diese intellektuelle Sicherheit eine Kehrseite. Wir begegnen im Leben hauptsächlich Altbekanntem. Und damit verliert es seinen Zauber. Das Gefühl, dass die Zeit rast, ist deshalb der Preis für die Illusion sich kompetent zu fühlen.

Der Mut und die damit verbundene Bereitschaft sich auch immer wieder Neuem und Unerwartetem zu stellen, wäre das probate Gegenmittel. Doch mit neugierigen Erwachsenen ist das so eine Sache. Kinder werden für diese Charaktereigenschaft  gelobt. Aber ein neugieriger Erwachsener wird selten mit der Tugend des kindlichen Staunens assoziiert. Das ist eher einer, der seine Nase in Sachen steckt, die ihn nichts angehen. Stimmt deshalb die Beobachtung, dass im positiven Sinne neugierige Erwachsene eine seltene Spezies sind? Woran könnte das liegen? Vermutlich verlieren Erwachsene die besondere Fehlerkultur, die Kinder auszeichnet. Will ein Kind das Laufen lernen, fällt es permanent auf den Hosenboden. Es bleibt aber nicht frustriert auf dem Boden hocken und beschließt beim Bewährten zu bleiben und in Zukunft einfach weiter zu kriechen. Es steht einfach auf und versucht es erneut. 

Beschließen jedoch Erwachsene sich dem Unvertrauten zu stellen, lernen sie gerne, wenn niemand zuschaut. Das dem Lernen inhärente Misslingen, das erst nach einer Weile peu a peu überwunden wird, ist ihnen häufig unangenehm. Deshalb ist es stressfreier, beim Bewährten zu bleiben. Aber die Angst, sich in Frage zu stellen und stattdessen beim Bewährten zu bleiben, nährt wie beschrieben die galoppierende Zeit. 

In diesem Zusammenhang lohnt es sich, über ein letztes Einsteinzitat nachzudenken.

In einem Interview wurde der berühmte Physiker gefragt, was seine herausragenden Fähigkeiten seien. Einstein antwortete: Seine Stirn und seine Nase. Die Nase war das Symbol für Intuition und Neugier. Die Stirn Sinnbild für Ausdauer und Frustrationstoleranz. Mit dieser Aussage bringt uns Einstein am Ende auf die richtige Bahn: Die Stirn zu haben, seiner Nase zu trauen, ist für Erwachsene die einzige Möglichkeit, sich ein kindliches Zeitgefühl zumindest ein Stück weit zu erhalten und so der galoppierenden Zeit Zügel anzulegen.

Marco Wehr

Gefährliche Wege zum Glück

“Keine Kunst vermochte etwas, kein Kraut nützte, keine Medizin richtete etwas aus.“

“Die ganze Stadt war ein Grab.“

Mit diesen düsteren Worten kommentierte der Chronist Lorenzo de Monacis die Pest, die 1348 in Venedig wütete. Die nächsten dreihundert Jahre wurde die Serenissima im Schnitt alle zehn Jahre von der Seuche heimgesucht. Gerade die verheerenden Ausbrüche von 1576 und 1630 haben sich ins kollektive Gedächtnis der Bevölkerung eingegraben. Die Folgen waren desaströs. Bei den großen Ausbrüchen starb ein Drittel der Bevölkerung. Auf das heutige Deutschland übertragen, wären bei einem vergleichbaren Ausbruch über 25 Millionen Tote zu beklagen. Jede Familie würde im engen Kreis Verstorbene beweinen. 

Die damalige Hilflosigkeit war unvorstellbar. Der Feind hatte kein Gesicht. Fast 5000 Jahre wütete die Pest schon und man hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie verursacht wurde. Üble Dünste standen im Verdacht. Oder ein sittenloses Leben, das einem rachsüchtigen Gott missfiel. Doch egal, ob man Kräuter verbrannte oder dem Herrn versprach, in Zukunft gottgefälliger zu leben, der Schnitter schwang unbarmherzig die Sense und vollbrachte sein grausames Werk. 

Beindruckend war aber die Dankbarkeit der Menschen, nachdem sich die Seuche zurückgezogen hatte. Man spendete viel Geld, um zwei eindrucksvolle Kirchen zu bauen, die bis heute das Stadtbild von Venedig prägen: Il Redentore und Santa Maria della Salute. Die Bauzeit der architektonischen Meisterwerke dauerte Jahrzehnte. Dafür waren finanzielle Mittel notwendig, die in ihrer Höhe kaum mehr vorstellbar sind. Bis zum heutigen Tage gibt es Prozessionen, um der Toten zu gedenken.

Machen wir einen Zeitsprung in die Gegenwart und nehmen die Coronapandemie in den Blick! Die ersten Kranken tauchten im Dezember 2019 im chinesischen Wuhan auf. Das Genom des Virus war schon wenige Wochen später sequenziert. Nur zwölf Monate später wurde die 90-jährige Maggi Keenan aus Coventry als Erste mit dem Impfstoff von BioNTech immunisiert. Im Moment sind in Deutschland über sechzig Prozent der Bürger mindestens einmal geimpft. Gestorben sind an Covid-19 etwa 92 000 Menschen. Setzt man die Zahl der Coronatoten in Deutschland in Beziehung zu der Anzahl der Pestopfer in Venedig, dann hatte die Lagunenstadt im Verhältnis etwa 30 000 mal mehr Tote zu beklagen als wir. Und es dauerte bei der Pest im Vergleich zu Corona 5000 mal länger, bis man sie heilen konnte.

Man könnte annehmen, dass das ein Grund zum Feiern ist. Eigentlich bestaunen wir einen unvergleichlichen Triumph der Wissenschaften. Doch niemand schickt sich an Forschern wie Ugur Sahin  und seiner Frau Öslem Türeci, die das potente mRNA-Vakzin entwickelt haben, eine Kathedrale zu bauen und Dankbarkeit zu zeigen. Stattdessen wird die Existenz eines Impfstoffes von den meisten für eine Selbstverständlichkeit gehalten. Und über die Rückkehr der Freiheit freut man sich eher verhalten. Viele sind sogar verstimmt. Zulange musste man auf den geliebten Urlaub verzichten oder grämte sich, da man nicht das Café seiner Wahl besuchen konnte. Auch die Anwesenheit der Kinder zuhause war fordernd. Deutlich zeigen sich Verdruss und Krisen in der Tatsache, dass Plätze beim Psychologen nicht mehr zu bekommen sind. Alles ausgebucht, auf Monate.

Wenn es eines Beweises bedurfte, dass unser Weltbild auf den Prüfstand muss, dann liefert ihn unser Umgang mit der Coronapandemie. Wobei die Zeichen auch schon vorher unübersehbar waren. Im Vergleich zum 19. Jahrhundert hat sich unsere Lebenserwartung fast verdreifacht. Betritt man heute einen gewöhnlichen Supermarkt so übertrifft die dortige Auswahl an Früchten aus aller Welt, Fisch, Fleisch, Geflügel  und Spezereien das, was man sich früher unter dem Paradies vorstellte. Die reichsten Fürsten und Könige der Geschichte hätten sich gedemütigt gefühlt, hätten sie die Möglichkeit gehabt, die Auswahl eines gewöhnlichen Supermarkts mit ihrer Festtafel zu vergleichen. Doch gemäß einer Umfrage kaufen die Menschen ausgesprochen ungern ein. Es ist Ihnen eine Last eine Kiwi aus Neuseeland, eine Ananas aus Nicaragua und ein saftiges Steak vom Rind aus der argentinischen Pampa in den Einkaufskorb zu legen. Lieber regt man sich auf, wenn die Litschis für den Salat  vergriffen sind.

Was ist da los? Warum führen diese paradiesischen Zustände, von denen Menschen zu allen Zeiten geträumt haben, nicht zu paradiesischen Glücksgefühlen?

Eher scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Pfeifende, singende und lachende  Menschen sind selten zu finden. Das passt zu einer Untersuchung aus Italien. Waren unsere liebenswerten Nachbarn einst das Paradebeispiel öffentlich zelebrierter Sangeskunst so hat sich auch jenseits der Alpen der Frohsinn in den Schmollwinkel verzogen. In den reicheren Vierteln Mailands schmettert niemand mehr ein Lied. Dazu muss man in den armen Süden fahren.

In den Industrieländern ist das Glück mit dem rapide gestiegenen Wohlstand nicht mitgewachsen. Stattdessen werden seelische Qualen zur Volkskrankheit. Gemäß einer großen Untersuchung der Barmer Ersatzkasse wird ein Viertel der 18- bis 25-Jährigen in Deutschland von Depressionen, Angstzuständen und Panikattacken gequält. Irgendwas läuft falsch. Warum wollen sich Glück und Zufriedenheit nicht einstellen, obwohl die äußeren Bedingungen so gut sind, wie noch nie in der gesamten Menschheitsgeschichte?

Um diesem eigenartigen Phänomen nachzuspüren, beginnen wir mit dem Begriff des Glücks selbst. Wenn man im Deutschen über Glück spricht, dann muss man zuerst eine Unterscheidung treffen. Glück hat bei uns zwei verschiedene Bedeutungen. Zum einen bezeichnet es den glücklichen Zufall. In der anderen Lesart ist ein Lebensgefühl gemeint. 

Beginnen wir mit dem glücklichen Zufall. Dessen Gegenspieler ist das gefürchtete Pech. Glück und Pech sind in diesem Zusammenhang etwas anderes als Verdienst und Schuld. Glück hat man, wenn man im Lotto gewinnt. Pech, wenn einem der sprichwörtliche Blumentopf vom Balkon auf den Kopf fällt. Natürlich kann Pech für eine Weile zu Missmut führen. Dauerhaft gefährlich für die eigene Zufriedenheit werden Glück und Pech aber erst, wenn man sie konsequent als Erklärungsprinzip heranzieht, um die eigene Lebenssituation zu legitimieren. Es sei betont, dass sich die folgende Argumentation nicht auf Menschen bezieht, die Schicksalsschläge wie schwere Krankheit oder den Verlust eines geliebten Menschen erleiden mussten. 

Was passiert, wenn man die eigene Unzufriedenheit immer dem Pech in die Schuhe schiebt? Wenn man beklagt, Pech mit den Eltern zu haben, mit den Lehrern und mit den Partnern? Wenn man lamentiert, nicht talentiert zu sein und mit seinem Aussehen hadert? 

Man gibt das Heft aus der Hand und macht sich zum Spielball eines unberechenbaren Zufalls. Das hat Konsequenzen. Die verführerische Seite besteht darin, dass man die Verantwortung für die eigene Befindlichkeit an eine unbekannte Schicksalsmacht delegiert. Das ist bequem. Aber der Preis ist hoch. Statt selbst zu handeln, fühlt man sich behandelt. Das ist ein gedeihlicher Nährboden für depressive Verstimmungen. Schließlich behauptet man, hilflos zu sein. Schon Hunde reagieren auf solche Situationen mit Schwermut. Man verglich in einem Experiment zwei Gruppen von Tieren, die in verschiedenen Käfigen untergebracht waren. Über deren Boden konnte man ihnen einen leichten Stromschlag zuführen. In dem einen Käfig gab es jedoch eine Apparatur, mit der die Hunde den Strom ausschalten konnten, was sie schnell lernten. In dem andern Käfig gab es diesen Mechanismus nicht. Im nächsten Versuchsdurchgang wurden beide Käfige oben geöffnet. Außerdem wurden die Seitenwände soweit erniedrigt, dass die Hunde mühelos herausspringen konnten. Den Abschaltmechanismus gab es allerdings nicht mehr. Die Hunde, die gelernt hatten, mit ihren eigenen Handlungen etwas zu bewirken, sprangen aus dem Käfig. Die anderen legten sich auf den Boden und ertrugen ihr Schicksal. Dieses Phänomen bezeichnet man als erlernte Hilflosigkeit. 

Ein weiteres interessantes Ergebnis stammt von der Psychologin Carolin Dweck. Zwei Studentengruppen absolvierten einen nicht zu schweren Test in Mathematik, den alle mit Erfolg absolvierten. Anschließend wurde die eine Gruppe überschwänglich für ihr Talent gelobt. Bei der anderen strich man ihren Fleiß und ihre Lernausdauer hervor. 

Im zweiten Durchgang waren die Tests deutlich schwerer. Interessanter Weise gaben nun die, die man für ihren Fleiß gelobt hatte, nicht so schnell auf. Sie zeigten Biss und schrieben passable Ergebnisse. Die aber, die sich etwas auf ihr Talent einbildeten, schmissen die Flinte schnell ins Korn und scheiterten häufiger. 

Die Erfahrung, auf der Grundlage eigener Kompetenzen seine Situation verändern zu können, verleiht also Flügel. Das weiß man auch aus der sogenannten Expertiseforschung. Menschen, die Dinge meisterlich können, sind vor allen Dingen die, die mit großer Ausdauer üben und den Mut haben, sich immer neuen Herausforderungen zu stellen. Das klappt am Besten, wenn man von einer Sache begeistert ist und deshalb eine hohe intrinsische Motivation hat. Entscheidend ist, nicht aufzugeben. Das vielgelobte Talent, der genetische Zufallsfaktor, spielt eine geringere Rolle als man allgemein denkt. So war Albert Einstein, der Inbegriff des Genies, kein wirklich brillanter Mathematiker. Er besaß aber einen Riecher für die richtigen Fragestellungen und eine bewundernswerte Zähigkeit, um jahrzehntelang zu arbeiten, bis er seinen Intuitionen endlich eine stringente mathematische Form geben konnte.

Die eigene Befindlichkeit mit Glück und Pech zu begründen birgt noch weitere Fallstricke. Wir neigen nämlich dazu, unsere Situation mit der anderer zu vergleichen. In der antiken Philosophie der Lebenskunst war das eine Todsünde. Der Hang zum Vergleich fördert schließlich die Entwicklung von Charaktereigenschaften, die mit Notwendigkeit zu Gram und Verdrießlichkeit führen. Die Rede ist von Neid und Missgunst. Man schaut sich neugierig um. Und gerade in der global vernetzten Welt findet sich immer einer, der besser aussieht oder wohlhabender ist, einen attraktiveren Partner hat oder etwas besser kann als man selbst. Und das wird in der Lesart von Glück und Pech als ungerecht empfunden. Warum die oder der und nicht ich?

Aus dieser Falle führt kein Weg heraus. Es sei denn, man ändert die Perspektive, akzeptiert seine Situation oder beschließt, sie aus eigenen Kräften zu ändern. Das wäre der gebotene Aufbruch in die Eigenverantwortung. Aber auch dieser hat eine Schattenseite. Wenn man sich die falschen Ziele setzt. Damit kommen wir zur zweiten Lesart des Glücks.

Fragt man Menschen nach ihrem Lebensziel, dann geben sie meist an, zufrieden und glücklich sein zu wollen. Dabei wird das Lebensglück mit Gesundheit und Erfolg in einen Zusammenhang gedacht. Wie essentiell Gesundheit ist, weiß jeder, der einmal ernstlich krank war. Nicht umsonst heißt es “Der Gesunde hat viele Probleme, der Kranke nur eins.“ Obwohl Gesundheit als essentieller Teil für die Zufriedenheit genannt wird, wundert man sich aber, dass viele Menschen dieser recht wenig Beachtung schenken. Übergewicht ist in allen reichen Ländern ein großes Problem. Rauchen und Trinken ebenfalls. 

Aber nicht nur der nachlässige Umgang mit dem eigenen Körper gibt Anlass zum Nachdenken. Auch viele der angestrebten Erfolgskriterien wären zu hinterfragen. Neben harmonischen Familienverhältnissen und Gesundheit werden Wohlstand, Ansehen, Karriere oder Einfluss angestrebt. Gerade kürzlich befragte man Teenager nach ihren Zukunftsplänen. Die meisten wollten einfach berühmt werden und zwar mit überschaubarem Aufwand. Der “Influencer“, der sich auf Social-Media-Kanälen viele Klicks holt, stand ganz hoch im Kurs. Aber das Streben nach Ansehen ist nicht nur unter Jugendlichen verbreitet. Auch Personen des öffentlichen Lebens, die sich etwas auf ihren Intellekt einbilden, sind prädestiniert, an die Angel zu gehen. Das Verlangen seine Meinung in den maßgeblichen Gazetten platziert zu sehen oder sich in Talkshows zu allem und jedem zu äußern, kann suchtartig werden.

Will man verstehen, weshalb das angestrengte Streben nach Geld, Ansehen, Karriere und Einfluss mit Vorsicht zu genießen ist, macht es Sinn, sich mit einigen grundlegenden psychologischen Prinzipien auseinanderzusetzen. Da gibt es an erster Stelle den Gewöhnungseffekt. Dieser ist eigentlich weder gut noch schlecht. Es ist tröstlich, dass viele Querschnittsgelähmte, die wegen eines Unfalls im Rollstuhl landen, eine Zufriedenheit erreichen können, die mit der vor dem Unfall vergleichbar ist. Hier funktioniert Gewöhnung wie ein lindernder Balsam. 

Sie kann aber auch eine andere Dynamik entfalten. Betrachten wir einen jungen Mann, der seine Ersparnisse zusammenkratzt, um sich einen nagelneuen Golf mit potentem Motor und Doppelauspuff zu kaufen. Steht das ersehnte Auto endlich in der Garage, kennt der Besitzerstolz keine Grenze. Leider verblasst das euphorische Gefühl mit der Zeit. Er gewöhnt sich an das Auto. Um einen neuen Kick zu bekommen, muss etwas Besseres her. Der Golf wird verkauft, jetzt gibt es den getunten BMW, nur wenige Jahre später muss es dann ein bulliger Mercedes sein. Dieser getriebene Zyklus von Erstreben, Erwerben, Gewöhnen und Veräußern wird in der Psychologie als die hedonistische Tretmühle bezeichnet. Wie ein Hamster im Laufrad bewegt man sich im Käfig seiner eigenen Zwänge. Doch das ist nicht alles:

Im Hamsterrad muss die Laufgeschwindigkeit permanent erhöht werden, um zur ersehnten Befriedigung zu gelangen. Das hat mit einem interessanten funktionalen Zusammenhang zu tun, der vor allen Dingen von dem Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahnemann und seinem verstorbenen Kollegen Amos Tversky untersucht wurde. 

Denken wir uns ein Koordinatensystem! Dann steht auf der X-Achse der objektive Wert. Rechts vom Nullpunkt könnte das ein Geldbetrag sein, den man bekommt. Links wären Verluste aufzutragen. Die Y-Variable bezeichnet Lust und Verdruss. Wie sehr freut man sich, wenn man einen bestimmten Betrag erhält oder wie sehr ärgert man sich, wenn man Geld verliert. Diese “Lust- und Verdruss-Funktion“ hat einige eindrückliche Eigenschaften. Da ist zum einen die Tatsache, dass Menschen negative Ereignisse stärker empfinden als positive. Der Ärger tausend Euro zu verlieren ist größer als die Freude, denselben Betrag zu gewinnen. Die Funktion also ist keine Winkelhalbierende, die durch den Nullpunkt geht. Das hat weitere Konsequenzen. Wenn der BMW doppelt so teuer ist wie der Golf, ist die Freude leider nicht doppelt so groß. Sie ist kleiner, da es sich bei der “Lust- und Verdruss-Funktion“ um eine Sättigungskurve handelt. Sowohl im negativen, wie im positiven Bereich nähert sie sich einem Wert, der nicht überschritten wird. Anschaulich sieht die Funktion ein bisschen wie ein in die Höhe gezogenes S aus. Das ist auf der Schmerzensseite positiv. Das empfundene Unglück hat eine Grenze. Die Freude aber auch. Diese steigt zuerst stark an, um dann mit wachsendem Einsatz immer mehr abzuflachen. Am Anfang ist sie also groß. Das erste Auto ist ein euphorisierendes Erlebnis. Doch je mehr man hat, desto mehr muss man investieren, um einen deutlichen Zuwachs an Glück zu empfinden. Das macht das Rennen in der Tretmühle zu einem letztlich hoffnungslosen Unterfangen. 

Und die Jagd nach dem Kick durch den Konsum hat weitere Schattenseiten. Beständig wird nach links und rechts geäugt, um sicherzustellen, dass man gut im Rennen liegt. Vielen reicht es nicht, dass es ihnen gut geht. Wichtig ist, dass es ihnen im Vergleich zu anderen besser geht. Auch zu diesem Phänomen gibt es aufschlussreiche Daten. Was wäre Ihnen lieber? Sie bekommen 80000 Euro, ihre ganzen Nachbarn aber 100000. Oder sie bekommen 60000 Euro und die Nachbarn nur 40000. Tatsächlich entscheiden sich mehr Menschen für die zweite Variante als für die erste. Das lässt nur eine Folgerung zu: Der relative Wert ist maßgeblicher als der absolute. Fassen wir zusammen: Für den jungen Herren, geht es nicht um das Auto an sich. Stattdessen ist er mit einem schwierigen Optimierungsproblem konfrontiert: Wie es gelingt ihm, mit gerade noch vertretbarem finanziellen Aufwand, ein Statussymbol zu erwerben, dass den eigenen Ansprüchen genügt und gleichzeitig den nötigen Eindruck schindet? Solche Probleme können die Gemütslage ziemlich beeinträchtigen Und natürlich sind nicht nur männliche Autokäufer betroffen sondern auch Frauen auf der Jagd nach der ultimativen Handtasche oder Familien auf der Suche nach dem absolut unverwechselbaren Urlaubserlebnis. Oder Eltern, die an der Karriere ihrer Kinder feilen. Oder Menschen, denen Gehalt und Laufbahn über alles gehen.  Überall, wo wir gewaltsam optimieren, um uns mit andern zu vergleichen, tappen wir in die Falle und werden Opfer der gerade beschriebenen Mechanismen. Es gefährdet also die Seelenruhe, wenn man im Namen des Erfolgs Reichtum, Ansehen, Aussehen, Ruhm oder Macht erstrebt. Dieses Streben kennt kein Ende. Es ist wie Salzwasser für den Dürstenden.

Vor diesem Hintergrund wird nun nachvollziehbar, weshalb unsere gegenwärtige Einschätzung der Coroankrise, legt man historische Maßstäbe zugrunde, so unangemessen ist. Wir haben uns mit großer Selbstverständlichkeit an einen unvergleichlichen Wohlstand gewöhnt, wobei wir dessen absolute Größe weder hinterfragen noch zur Kenntnis nehmen. Im “Lust-und Verdruss-Diagramm“ sind viele schon sehr weit nach rechts gewandert. Substanzielle Verbesserungen sind da kaum mehr möglich. Dafür nehmen wir graduelle Verschlechterungen als ausgesprochen schmerzhaft wahr. Und zu allem Überfluss machen wir unsere Befindlichkeit auch noch davon abhängig, wie wir uns im Vergleich zu anderen Menschen einordnen. Damit wären wir erneut bei den Glücksgiften Neid und Missgunst. Warum der oder die und nicht ich?! 

Da Vergleiche mit anderen in unserer Gesellschaft eine so große Rolle spielen, obwohl diese die Lebenszufriedenheit in tückischer Weise untergraben, muss hier noch über den Einfluss der sozialen Medien gesprochen werden, die in diesem Zusammenhang wie ein Brandbeschleuniger wirken. Es ist nämlich wichtig zu verstehen, dass Medien wie Facebook oder Instagram globale Schaufenster sind. 

Sie verleiten dazu, anderen Menschen zu folgen und deren Leben zu betrachten, man liegt aber auch selbst in der Auslage und wird von ihnen betrachtet. Da will man natürlich ein gutes Bild abgeben. Das verleitet dazu, seinen virtuellen Auftritt wirkungsvoll zu gestalten und die Möglichkeit der gesteuerten Selbstinszenierung gestattet es, die gewünschte Aufmerksamkeit zu generieren. Und genau diese Aufmerksamkeit ist mit dem Ansehen korreliert. Wobei Ansehen hier ganz wörtlich zu verstehen ist. Aus der Verhaltensbiologie weiß man, dass Menschen mit großem Ansehen von vielen Menschen angesehen(!) werden. Wie verführerisch ist es deshalb für Menschen mit histrionischer Persönlichkeit, von Millionen Menschen am Bildschirm betrachtet zu werden? Doch auch hier lauert Gefahr. 

Von dieser sind besonders Mädchen und junge Frauen betroffen. Während man weiß, dass bei der eigenen Inszenierung mitunter geschickt gemogelt wird, neigt man dazu, die aufpolierten Existenzen der anderen für authentisch zu halten. Bei den anderen scheint im Urlaub offensichtlich permanent die Sonne, die Partys sind rauschender, sie sind immer super gelaunt und besser aussehen tun sie auch noch. Das führt zur Niedergeschlagenheit. Oder zur Gegenreaktion. Einem krampfhaften Kampf um Aufmerksamkeit, der die verrücktesten Formen annehmen kann. Am verstörendsten sind Mädchen, die sich im globalen Schlankheitswettkampf zu Tode hungern oder sensationslüsternde Reiseblogger, die auf der Suche nach dem ultimativen Film von Klippen stürzen oder in Wasserfällen ertrinken.

Wie könnte man die Schwerpunkte in seinem Leben anders setzen? Da gäbe es natürlich den klassischen und bewährten Weg der Philosophie. Man befragt ausgewiesene Meister der Lebenskunst wie Epikur, Seneca, Marc Aurel, Buddha, Laotse oder Aristoteles und macht sich auf einen langen Weg. Man könnte sich aber auch mit der Harvard-Glücksstudie beschäftigen, einem modernen Experiment, das seines Gleichen sucht. Wir wählen hier die zweite Möglichkeit. In der Harvard-Glücksstudie wurden die Lebenswege von 814 Menschen akribisch untersucht. Die Probanden waren eine wilde Mischung. Begabte weiße Männer, Menschen verschiedenster Ethnien aus ärmeren Verhältnissen und Frauen mit extrem hohem Intelligenzquotienten. Die Testpersonen, die bis zum heutigen Tage anonym sind, wurden in regelmäßigen Zeiträumen genauestens befragt, beobachtet und analysiert. Die wesentliche Frage war, was ein glückliches Leben ausmacht. Nachdem man diese Menschen meistens bis ans Sterbebett begleitet hatte, kristallisierte sich eine Essenz heraus, die uns zu denken geben muss. Zuerst fand man das Naheliegende: Schwere Krankheit, der Verlust der Kinder, katastrophale finanzielle Verhältnisse, sind Bedingungen, die dem Glück massiv im Weg stehen. Doch bei denen, die von solchen Schicksalsschlägen verschont geblieben waren, stellte sich nicht automatisch Zufriedenheit ein! Es zeigte sich, dass die oben diskutierten und gesellschaftlich geadelten “Erfolgskriterien“ Ansehen, Aussehen, Wohlstand, Einfluss für das Lebensglück keine wesentliche Rolle spielen. Entscheidend waren einzig zwei Punkte. Glücklich wurden die, die für sich eine Lebensaufgabe gefunden hatten, die ihrem eigenen Wesen entsprach und die zudem in der Lage waren, Liebe zu geben und Liebe zu empfangen. Gerade der erste Aspekt deckt sich mit der Einschätzung des griechischen Philosophen Aristoteles. 

„Glück wird dem Zuteil, der gemäß seines eigenen Wesens lebt“ sagte er, wobei er so klug war zu wissen, dass Gesundheit, bescheidener Wohlstand, eine intakte Familie und gute Freunde notwendige Bedingungen des Glücks sind. Wie aber erfährt man, ob eine Tätigkeit, die man anstrebt, seinem eigenen Wesen entspricht? 

Damit kommen wir zum alten Orakelspruch von Delphi, der in den verschiedensten Auslegungen eine zentrale Rolle in der Philosophie spielt. Er lautet: “Erkenne Dich selbst!“. Leider hat dieser harmlos klingende Satz eine verstörende Tiefe. Der Prozess, sich selbst auszuloten, die eigenen Ängste, Bedürfnisse, Befähigungen zu erkennen, ist nichts, das sich in einem Wochenendseminar erledigen ließe. 

Das ist eine lohnende Aufgabe, der man sich stellen muss und die einen langen Atem braucht. 

Vor Hintergrund gesammelter antiker Lebenskunst und den aktuellen Ergebnissen der Harvard-Glücksstudie sei nun eine ketzerische Frage erlaubt: Stehen die in unserer Gesellschaft für selbstverständlich gehaltenen Erfolgskriterien, die uns in vielen Zusammenhängen wie ein Mantra vorgebetet werden, dem Glück im Weg, während eine Lebensführung, die sowohl den Einsichten antiker Weisheitslehrer als auch  moderner Glücksforschung entspricht, wenig Wertschätzung erfährt? 

Wenn es so zentral ist, Liebe zu geben und Liebe zu empfangen und einen Lebensweg einzuschlagen, der dem eigenen Wesen gemäß ist, dann stellt sich heraus, dass die Art und Weise, wie wir in unserer Gesellschaft Schule und Studium gestalten, und wie viel Zeit wir mit unseren Kindern, Verwandten und Freunden verbringen und wie wir mit diesen umgehen, im tiefsten Sinne philosophische Probleme sind. Hinterfragen wir diese wichtigen Punkte?

Bliebe noch hinzuzufügen, dass ein Leben, das die Schwerpunkte eher in den Beziehungen und weniger in den Dingen setzt, unseren Lebensraum schont. 

Zur Zufriedenheit braucht es viel weniger, als man glaubt. Außerdem geraten andere Charaktereigenschaften in den Fokus. An die Stelle von Neid und Missgunst treten die Glücksbringer Bescheidenheit und Dankbarkeit. 

Immer am dritten Wochenende im Juli findet in Venedig in der Kirche Il Redentore ein großer Gottesdienst statt. Man ist dankbar und feiert, dass die Pest Geschichte ist. In diesem Jahr hat man die Coronaseuche, die wir mit konsequenter Impfung wohl in den Griff bekommen werden, zum ersten Mal in die Feier mit eingeschlossen. Damit wäre zumindest in Italien ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung getan. 

Der Baerbock – Ein Tagebuch des Unverstands

                

Bei grünen Politikern wie Annalena Baerbock, Luisa Neubauer, Cem Özdemir oder Ricarda Lang wird Kompetenz gerne durch Gesinnung ersetzt. Das hat fatale Konsequenzen für eine effektive ökologische Politik. Pars pro toto sind hier “Ausrutscher“ von Annalena Baerbock gesammelt und kommentiert.

von Marco Wehr


Ein Tagebuch des Unverstands

Annalena Baerbock besitzt die Gabe, die Öffentlichkeit mit erstaunlichen Äußerungen zu überraschen. Und gerade da, wo ihre Äußerungen ökologische Themen betreffen, scheint durch, dass sie nicht immer genau weiß, worüber sie spricht. Leider werden ihre Fehltritte von vielen Medien mit Sanftmut zur Kenntnis genommen. Das ist bedenklich. Von einem Kapitän, der einen Ozeandampfer steuert, verlangt man ein Kapitänspatent und keinen Jollenführerschein. Von einer Politikerin, die sich mit anderen anschickt, eine große ökologische Transformation einzuleiten, erwartet man, dass sie weiß, was sie tut. Über die beruflichen Qualifikationen von Frau Baerbock wird bis heute diskutiert. Aber eins ist sicher: Die Naturwissenschaften sind es nicht. Das ist bedenklich. Ökologie ist eine Wissenschaft.

In den untenstehenden Texten wird nun der Versuch gestartet, die bisherigen “Baerböcke“ zu hinterfragen, sie zu wägen und zu wichten. So bekommt man ein Gefühl für die Beziehung von grüner Kompetenz und grüner Gesinnung. Da man sich auf weitere Bonmots aus dem Mund von Frau Baerbock verlassen kann, werden die Beiträge sukzessive ergänzt. Die weiter unten stehenden Beiträge sind älter. Damit ist dieser Blogbeitrag – sorgsam geschichtet – so etwas wie ein Tagebuch des Unverstands.

Die Auseinandersetzung mit Frau Barbock ist übrigens exemplarisch. Man könnte auch Ricarda Lang, Luisa Neubauer oder Cem Özdemir als Beispiel nehmen. Allen ist gemeinsam, dass sie “aus dem Bauch“ heraus eine Energiewende anschieben, die im ersten Moment das Gewissen beruhigen mag. Schaut man aber genauer hin, fühlt man ein großes Unbehagen. Sehr viel Geld wird für sehr ineffiziente Projekte zum Fenster herausgeschmissen. Das Klimaproblem löst man auf diese Weise sicher nicht. So kommt man zu einer paradox anmutenden Einsicht: Gerade die, die sich lautstark für eine im Kern irrationale Energiepolitik engagieren, könnten verantwortlich werden, dass wir das Klimaproblem nicht schnell genug in den Griff bekommen. Dagegen sollten wir uns wehren.




DER FETTNAPF

“Denn wir kämpfen einen Krieg gegen Russland und nicht gegeneinander“ Annalena Baerbock

Darf man diese Äußerung der Außenministerin, die sie bei der Parlamentarischen Versammlung des Europarats zum Besten gab, als fatal bezeichnen? Selbst die taz möchte es nicht glauben. Eine in der Geschichte wohl einmalige “Kriegserklärung aus Versehen“.



Eine Erde bis zum Mond

Auch als Außenministerin setzt Frau Barbock ihre Zuhörer immer wieder in Erstaunen. Das liegt zum einen an Duktus und Diktion ihrer Beiträge. Ihre permanenten Wortneuschöpfungen und Verballhornungen nähren Zweifel, ob sie die deutsche Sprache in Wort und Schrift hinreichend beherrscht. Dazu kommen die sattsam bekannten inhaltlichen Kapriolen. Von einem gebildeten Menschen erwartet man nicht, dass er auf jede Detailfrage die richtige Antwort gibt. Er sollte aber ein Gefühl für Größenordnungen haben. Und da macht eben die eine oder andere Null einen wichtigen Unterschied aus. Probleme mit der Null gab es mal wieder, als Frau Baerbock ausgerechnet als Außenministerin(!) von Nachbarländern sprach, die hundertausende Kilometer von uns entfernt sind. Hunderttausende? Damit rückte sie diese in die Nähe des Mondes. Zu dem fliegt man gemeinhin aber nicht mit dem Flugzeug sondern mit einer Rakete. Eigentlich weiß jedes Kind, dass die Erde einen Umfang von ca. 40 000 Kilometern hat. Die weiteste Strecke, die wir mit dem Flugzeug brauchen, um von einem Land zum anderen zu kommen, kann deshalb nicht mehr als 20000 Kilometer betragen. Wo war Frau Baerbock mit ihren Gedanken, als das in der Schule drankam?



Napoleon – der Panzergeneral

Weiter unten wurde darauf hingewiesen, dass Frau Baerbock die Kompetenzen des promovierten Kollegen Robert Habeck in der Hühner- und Schweinezucht verortete, während sie sich selbst stolz als Völkerrechtlerin bezeichnete. Kenntnisse des Völkerrechts sind nun nicht von geschichtlichen Begebenheiten zu trennen. Man könnte deshalb erwarten, dass im Kopf einer Völkerrechtlerin bestimmte Bilder aufsteigen, wenn etwa von Napoleons Russlandfeldzug oder dessen Ägyptischer Expedition die Rede ist. Sieht da irgendjemand vor seinem inneren Auge den kleingewachsenen Feldherrn im Panzer auf die Pyramiden zurollen? Oder bleibt er mit den Kettenfahrzeugen verzweifelt im russischen Schlamm stecken und verliert den Krieg, weil die Treibstofflogistik im Winter zusammenbricht? Für Frau Baerbock scheinen historische Begebenheiten nur den Wert verhandelbarer poststrukturalistischer Konventionen zu sein. Anders ist nicht zu erklären, dass Panzer in ihrem Geschichtsbild schon vor der Erfindung des Automobils und in etwa zeitgleich mit einem vernünftig funktionierenden Fahrrad vorkommen. Eine Erde bis zum Mond und Napoleon als Panzerfahrer. Sowohl im Raum als auch in der Zeit will es mit dem Gebrauch der Nullen nicht so richtig klappen.



Arroganz und Kobold

Annalena Baerbock war als Kanzlerkanditatin medial fast vollständig von der Bühne verschwunden, weil den Grünen ihre Quotenregelung zum wiederholten Male auf die Füße gefallen war. Stattdessen wurde der deutlich eloquentere und auch versiertere Robert Habeck in den Ring geschickt, um größeres Ungemach zu vermeiden. Das ist bemerkenswert. Schließlich stellte Frau Baerbock ihren Kollegen öffentlich bloß, weil sie Habecks Kernkompetenz eher in der Hühner- und Schweinezucht verortete, während sie sich selbst  – zu Unrecht – als Völkerrechtlerin bezeichnete. Robert Habeck ist vorzuwerfen, dass er sich diese Unverschämtheit gefallen ließ. 

Obwohl nun bei den Grünen der Baum brannte (wie auch bei der CDU) und teure Marketingstrategen bezahlt wurden, um der Kampagne noch den richtigen Dreh zu geben, wäre eine Auseinandersetzung mit den rhetorischen Fehltritten von Frau Baerbock unvollständig, wenn man nicht das berüchtigte “Kobold-Zitat“ erörtern würde. Das ist notwendig, da betreffs der erhofften Leistungen künftiger Speichertechnologien nicht nur die Grünen auf dem Holzweg sind. Die “Umweltstrategien“ von SPD und CDU sind in diesem Kontext um keinen Deut besser und werden nur noch von den weltfremden Visionen von “Fridays for Future“ oder “Ende Gelände“ übertroffen. 

Abschließend dann noch ein paar Worte zu dem Lapsus von Frau Baerbock ausgerechnet die Wirtschaftspolitik von Ludwig Erhard der SPD zuzurechnen. Das ist ein bemerkenswerter Fauxpas, der einer “Völkerrechtlerin“ nicht hätte passieren dürfen.


Was hat das Schürfen von Kobalt mit “Black Lives Matter“ zu tun?

Dass Annalena Baerbock mit größter Selbstverständlichkeit das Element Kobalt mit dem Kobold verwechselt, ist nichts, was einen überrascht. Vor allen Dingen in Dialogsituationen, wenn sie gefordert ist, spontan zu reagieren und keine Rede abspulen kann, erinnern ihre Ausführungen in Stringenz und Diktion an das Meisterwerk von Loriot, der in unnachahmlicher Weise, das gängige Politikerkauderwelsch parodierte. Trotz dieser rhetorischen Eiertänze muss über Kobalt in verschiedenen Zusammenhängen sachlich gesprochen werden. 

Wenn man sich das komplette “Kobold-Interview“ von Frau Baerbock anschaut, dann behauptet sie, dass die Energiepolitik der Grünen technologieoffen ist. Das darf man guten Gewissens als Lüge bezeichnen. Nimmt man die europäische Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU), die Umweltministerin Svenja Schulze (SPD) und Annalen Baerbock (Die Grünen) zusammen, dann bilden diese zusammen ein Machtkartell, das die Automobilindustrie vor sich hertreibt. Durch den Umstand, dass Elektroautos als “Null-Emissionsautos“ bezeichnet und behandelt werden, wird die freie Marktwirtschaft konterkariert. Es ist eine sattsam bekannte Tatsache, dass Elektroautos mit schweren Batterien, die in der Herstellung viel dreckigen Kohlestrom benötigen, sehr lange fahren müssen, bis ihr “CO2-Rucksack“ kleiner ist, als der anderer alternativer Fahrzeuge. Es sei nur daran erinnert, dass Volkswagen einen Erdgas-UP im Programm hatte, dessen Betrieb etwa 4 Euro auf 100 Kilometer Strecke kostet (unsubventioniert). Mit dieser beispiellosen Umweltbilanz stellt er fast alle Elektroautos in den Schatten, was leider niemanden interessiert. Die forcierte Elektromobilität ist politisch opportun, koste es, was es wolle. Aber der Preis ist hoch. 

Schauen wir zuerst auf die Bedingungen, unter denen Kobalt abgebaut wird, das für die heute meist verwendeten Lithium-Ionen-Akkus notwendig ist. Zehntausende von Kindern schuften in den Minen, ruinieren ihre Gesundheit und können nicht zur Schule gehen. Die stillschweigende Akzeptanz dieser Arbeitsbedingungen ist politisch doppelbödig. Man erinnere sich an die in allen Großstädten verbreiteten Fairtrade-Läden, die man geradezu als Signature-Stores grüner Gesinnungsethik betrachten kann. Es beruhigt das Gewissen des Konsumenten, Kaffee aus fairer Produktion zu trinken und lautstark gegen Blutdiamanten auf die Straße zu gehen. Warum entzündet sich der Protest nicht an den menschenverachtenden Bedingungen unter denen Kobalt, vor allen Dingen Coltan aber auch Lithium abgebaut werden? Weil in diesem Kontext die politisch opportune Einstellung die “Energiewende voranzubringen“ wichtiger ist als Menschenleben?

Die Missachtung ethischer Standards bei der Forcierung der Elektromobilität ist schon fragwürdig genug. Nach meinem Dafürhalten wird diese Haltung skandalös, wenn man sie mit der berechtigten Ablehnung von Rassismus und Kolonialismus in einen Zusammenhang denkt. Bei der Partei von Annalena Baerbock gehören die Slogans der “Black Lives Matter“-Bewegung zur ideologischen DNA. Ist es vor diesem Hintergrund statthaft, die Schädigung der Gesundheit afrikanischer Kinder willentlich in Kauf zu nehmen, damit in Deutschland die Luft für unsere Kinder sauberer wird?

Dieser weltanschauliche Spreizschritt ist umso erstaunlicher, als es technische Alternativen gibt. Diese wurden allerdings von den Europäern konsequent verschlafen. Bei der Entwicklung der Natrium-Ionen- Akkus waren die Europäer führend. Bei diesen werden weder Lithium, noch Nickel oder Kobalt gebraucht. In dem hier verlinkten lesenswerten Artikel heißt es: “ Aus europäischer Sicht ist der von Ignoranz geprägte Umgang mit Natrium-Ionen-Akkus trotz der rasanten Fortschritte in den vergangenen Jahren sehr ärgerlich. Ein Großteil der Experten hatte sie abgeschrieben als höchstens tauglich für stationäre Speicher und Autos mit kurzer Reichweite. Das Entwicklungspotenzial wurde trotz aller Fortschritte systematisch unterschätzt und die Entwicklung trotz achtbarer Demonstrationen kaum gefördert.“

Wenn man sich also schon einseitig auf die E-Mobilität kapriziert, dann bitte auf Akkusysteme, deren Produktion gewissen ethischen Mindeststandards genügt. Trotz schüchterner Lippenbekenntnisse, auch von Frau Baerbock, passiert da leider wenig bis nichts.


Falsche Propheten

Der Lapsus der grünen Kanzlerkandidatin, die wegweisende Wirtschaftspolitik des CDU-Politikers Ludwig Erhard ausgerechnet der SPD zuzuordnen ist aufschlussreich. Nichts könnte falscher sein. Ludwig Erhard vertraute den Kreativkräften des Marktes, wobei die Politik den Ordnungsrahmen vorgibt, in der sich diese entfalten können. Im völligen Gegensatz zu dieser Einstellung misstrauen Linke, Grüne und Sozialdemokraten diesem freien Wechselspiel der Ideen. Lieber gibt man sich der Illusion hin, es könnte eine Gruppe von Spezialisten geben, die auch hyperkomplexe Probleme wie die Energiewende vom “Feldherrenhügel“ aus lösen. Wie vermessen dieser Anspruch ist, war das große Lebensthema des Wirtschaftstheoretikers Friedrich August von Hayek, der für seine wegweisenden Arbeiten mit dem Wirtschaftsnobelpreis geadelt wurde.

Das Ergebnis eines solchen planwirtschaftlichen Ansatzes bestaunen wir heute beim Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG), das nicht nur das gewaltigste Infrastrukturprojekt der BRD nach dem Zweiten Weltkrieg ist und den Steuerzahler etwa eine Billionen Euro (eintausend Milliarden) Euro kosten wird. Die planwirtschaftliche Gigantomanie ist auch noch im Vergleich mit anderen Ländern ineffizient. Und auch beim EEG gibt es, wie bei der Verwendung der Lithium-Ionen-Akkus, eine weltanschauliche Doppelbödigkeit zu bestaunen. Der höchste Strompreis der Welt  ist in Deutschland nämlich gerade für arme Leute besonders schmerzhaft. Diese sind gezwungen, die staatlich verordnete Einspeisevergütung zu bezahlen und können sich nicht wie die Windmüller und Sonnenkönige mit ihren von der Allgemeinheit subventionierten Anlagen aus der Affäre ziehen.

Eigentlich müsste das planwirtschaftliche Versagen des EEG ein nicht zu überhörender Warnschuss sein. Leider steht zu befürchten, dass es in den nächsten 15 Jahren noch schlimmer kommt. Das hat mit der Forderung zu tun, aus der Atomkraft auszusteigen und gleichzeitig fossile Brennstoffe zu verbannen und durch regenerative Energien zu ersetzen. Das hört sich nur auf dem Papier gut an. Genau bei diesem Problem gehen nämlich der “Kobold“ von Frau Baerbock und die Kompetenzillusion, eine extrem komplexe Fragestellung planwirtschaftlich lösen zu wollen, eine unheilvolle Allianz ein. 

Wo liegt die Schwierigkeit? Wir erinnern uns in einem ersten Schritt, das ein weit einfacheres Problem seit zwei Jahrzehnten nicht gelöst ist: Es gibt bis heute kein hinreichend potentes Leitungsnetz, das den Strom aus dem windreichen Norden in den stark industrialisierten Süden überträgt. Doch im Vergleich zu dem, was gemäß der Denkart von Frau Baerbock und insbesondere ihrer Mitstreiterin Luisa Neubauer auf uns zukommt, ist das Kinderkram. Wir werden nämlich binnen weniger Jahre ein fast omnipotentes Speichersystem bauen müssen, wenn die Sache mit den regenerativen Energien klappen soll. Dieses ist leider weder planbar noch bezahlbar und deshalb ein Luftschloss. 

Wagen wir zur Erläuterung eine Überschlagsrechnung und legen, um ein Gefühl für Größenordnungen zu bekommen, heute verfügbare Zahlen zugrunde. Wir veranschlagen den täglichen Energiebedarf in Deutschland mit 5 Terawattstunden (TWh). Im Jahr 2035, dem Jahr, in dem zumindest gemäß der Forderungen der Grünen, in Deutschland ausschließlich regenerative Energien zur Anwendung kämen, muss ja die gesamte Primärenergie(!) “ökologisch korrekt zur Verfügung gestellt werden“. Die Energie, die gespeichert werden müsste, entspricht nach meiner Einschätzung dann der Sekundärenergie, da ich hier idealisierend annehme, dass es keine Speicherverluste gibt. Der Primärverbrauch in der BRD von etwa 10 TWh pro Tag, wird deshalb wegen des immer eingeschränkten Wirkungsgrad großzügig mit dem Faktor 0,5 multipliziert. Mir ist klar, dass das eine grobe Schätzung ist. Ich glaube aber, dass 5 TWh am Tag konservativ geschätzt sind. 

Wie müsste jetzt der gigantische Energiespeicher dimensioniert sein, der Baerbock, Neubauer und Konsorten vorschwebt, um die Versorgungssicherheit in Deutschland zu gewährleisten und den Worst-Case zu vermeiden? Der Worst-Case wäre ein Black-Out, der in einem Hochindustrieland wie Deutschland schon nach kurzer Zeit zu Toten führen würde und einen unkalkulierbaren wirtschaftlichen Schaden nach sich zöge. Die Gefahr des Black-Outs bestünde besonders, wenn es zu einer längeren Dunkelflaute käme. Kein Wind, keine Sonne. Dann müssten aus den Speichern also pro Tag 5 TWh abrufbar sein. Aber wie lange dauert die Dunkelflaute? Und wie stark sind die Speicher im Moment des Eintretens geladen? Und wie schnell werden sie sich wieder aufladen, bis die nächste Dunkelflaute kommt?

Das sind zentrale Fragen, auf die es keine Antwort gibt. Deshalb ist es vergebliche Liebesmüh, die Speicherfrage planwirtschaftlich lösen zu wollen. Das Wetter ist nämlich ein hochgradig chaotisches System! Es ist definitiv unmöglich, verlässliche Aussagen über längere Zeiträume zu machen. Niemand weiß, wie lange eine Dunkelflaute sein wird. Niemand weiß, in welchen Abständen solche Ereignisse auftreten werden. Und aus diesem Grund weiß auch niemand, wie ein Speichersystem zu konfigurieren ist, das das Risiko des Super-GAU verlässlich ausschließt. Vielleicht brauchen wir 10 TWh für den Speicher, vielleicht aber auch 500 TWh. Es muss in aller Deutlichkeit gesagt werden, dass dieses Problem wissenschaftstheoretisch nicht lösbar ist! Die, die etwas anderes behaupten, riskieren Leib und Leben vieler Menschen. 

Natürlich gibt es trotzdem Schätzungen, welche Kapazität ein solches System haben sollte. Die Schätzungen bewegen sich meistens zwischen 10 und 100 TWh. Obwohl ich, wie gerade ausgeführt, die Meinung vertrete, dass es verantwortungslos wäre, ein solches System zu konfigurieren, kann man aus Interesse einmal ausrechnen, was ein solcher Speicher in etwa kosten würde.

Nehmen wir an, das Gesamtsystem soll 50 TWh speichern können. Des Weiteren setzen wir einen Preis von 100 Euro pro KWh Speicherkapazität fest. Leistungsfähige Akkus für Häuser sind im allgemeinen teuerer, aber es geht, wie betont, nur um eine ungefähre Abschätzung. Rechnet man das aus, kommt man auf Kosten von 5 Billionen Euro. Wenn man dieser Summe den gesamten Bundeshaushalt der BRD entgegenstellt, dann wird klar, dass ein solcher Speicher, auch wenn die Preise noch einmal um den Faktor 10 fallen würden, in den nächsten 15 Jahren in keiner Weise zu finanzieren wäre. 

Und es gibt einen weiteren Haken. Nicht einmal die Weltjahresproduktion des Minerals Kobalt würde reichen, um den Speicher zu bauen! Insgesamt werden etwa 124 000 Tonnen Kobalt pro Jahr gefördert. Bei gängiger Technologie braucht man bei Lithium-Ionen-Akkus aber pro KWh 150 Gramm Kobalt. Damit käme man bei der oben festgesetzten Speichergröße auf einen Bedarf von 7.5 Millionen Tonnen Kobalt! Das ist also etwa sechzig Mal mehr, als weltweit Kobalt gefördert wird. Selbst, wenn wir die Bauzeit des Speichernetzes auf fünfzehn Jahre veranschlagen, würde das Kobalt nicht reichen. Und wir reden hier über ein Land, das nur 2% (!) der weltweiten CO“-Emissionen zu verantworten hat. 

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Annalena Baerbock und ihre Mitdenker und Mitdenkerinnen Luftschlösser bauen, auch wenn man in Rechnung stellt, dass es schwer ist, zukünftige Preise zu kalkulieren und Lithium-Ionen-Akkus wahrscheinlich mittelfristig eine andere Rolle spielen werden als heute. Auch deutet sich an, dass es in Zukunft eine Power to Gas-Strategie geben wird, wobei aber noch nicht klar ist, wie sich die nun funktionierenden Prototypen “hochskalieren“ lassen, um als gigantische Energiespeicher arbeiten zu können. Die finanziellen Dimensionen eines solchen Megaprojekts liegen noch im Ungefähren.

Die Uhr aber tickt! Deshalb ist es ein Gebot der Vernunft, seine Energie nicht auf Nebenkriegsschauplätzen zu verschwenden. Es wird höchste Zeit, unsere Aufmerksamkeit und Energie dorthin zu lenken, wo das CO2-Problem neben Amerika und China am dringlichsten wird ist, nämlich nach Afrika und Indien. Durch das gut vorhersehbare Bevölkerungswachstum wird dort bis 2050 ein gigantischer Energiebedarf entstehen. Wenn wir den Menschen in diesen Weltregionen dasselbe Lebensrecht zusprechen wie uns, müsste in naher Zukunft eine Energiemenge zur Verfügung stehen, die mindestens dem Neubau von 20000 Kohlekraftwerken entspricht. Da in diesen Ländern nicht viel Kapital zur Verfügung steht, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass dort in naher Zukunft vermehrt dreckige Kohle und billiges Öl verfeuert werden. Deshalb muss diskutiert werden, ob man den viel besungenen grünen Wasserstoff nicht dort herstellt, wo wirklich die Sonne scheint und der Wind weht. Damit würden zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Es gäbe einen Transfer von Kapital und Technologie in arme Länder und ökologische Energieträger würden weit effizienter hergestellt als in der BRD. Außerdem gäbe es in Deutschland schon die komplette Infrastruktur, um dort hergestelltes “grünes Gas“ zu verwenden. Des Weiteren muss diskutiert werden, die funktionierenden Atomkraftwerke länger laufen zu lassen. Damit würde man sich dringend benötigte Zeit kaufen, um das komplexe Problem der Energiewende nicht mit der heißen Nadel zu stricken. Wer überzeugt ist, dass es in weniger (!) als 15 Jahren in Deutschland gelingt, eine allumfassende Speicherlösung zu schaffen, die es möglich macht, einzig auf regenerative Energien zu setzen, dem ist eigentlich nicht mehr zu helfen. Es fehlen Zeit, Geld und Know-How.

Vor diesem Grund ist es ökologisch unverantwortlich in Deutschland gigantische Geldbeträge für eine ineffiziente ökologische Politik zu verbrennen, die in erster Linie die Funktion hat, unser Gewissen zu beruhigen.  An dieser Politik ist Frau Baerbock mit ihren Parteigenossen maßgeblich beteiligt. Leider machen es die Politiker der anderen großen Parteien nicht wirklich besser. Dabei wäre es an der Zeit, dass mit offenen Karten gespielt wird, um eine valide ökologische Strategie zu entwickeln. Doch dafür bräuchten wir erstmal einen mit offenem Visier geführten Diskurs. Auch da liegt leider vieles im Argen.

Anmerkung: Ich mache meine Überschlagsrechnungen nach bestem Wissen und Gewissen, weiß aber, dass es sich um eine komplexe Materie handelt und mir selbstverständlich Irrtümer unterlaufen können. Sollte ich von falschen Annahmen ausgehen oder mich verrechnen, freue ich mich über Rückmeldungen und bitte darum, mich zu korrigieren. Die Probleme, die hier gerade diskutiert werden, lassen sich sowieso nur im Team angehen.


Das Kreuz mit dem Netz

“Lebhafte Debatten und kluger Streit sind die Essenz unserer Demokratie. Mein Anspruch ist es, Probleme in ihrer Breite und Tiefe zu erfassen und anzugehen“ Annalena Baerbock auf www.annalena-baerbock.de

“Deswegen funktioniert das Netz als Speicher“ ist eines der denkwürdigsten Zitate von Annalena Baerbock, das es mittlerweile zu trauriger Berühmtheit gebracht hat. Leider handelt es sich bei diesem Zitat nicht um einen Versprecher, der ihr einfach so rausgerutscht ist. Noch in den letzten Wochen hat Frau Baerbock in einem Interview mit Sandra Maischberger trotzig auf die Richtigkeit ihrer Aussage gepocht. Bevor wir versuchen, ihre Netzmetapher zu entwirren, hier das Originalzitat im Wortlaut:

“An Tagen wie diesen, wo es grau ist, da haben wir natürlich viel weniger erneuerbare Energien. Deswegen haben wir Speicher. Deswegen fungiert das Netz als Speicher. Und das ist alles ausgerechnet. Ich habe irgendwie keine wirkliche Lust, mir gerade mit den politischen Akteuren, die das besser wissen, zu sagen, das kann nicht funktionieren.“

Annalena Baerbock in einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk (21.1.2018)


Um die Irrungen und Wirrungen der Kanzlerkandidatin zu verstehen, muss man ein bisschen weiter ausholen. Da wäre zuerst einmal festzustellen, dass das Netz, von dem sie redet, bis heute ein Phantasieprodukt ist. Tatsächlich wäre ein leistungsfähiges Stromnetz ein essentieller Bestandteil der Energiewende, so wie die Grünen sich diese vorstellen. Nur ist dieses Netz leider weit davon entfernt, fertig zu sein. Im Gegenteil. Große Teile der “Stromautobahnen“, die den windreichen Norden Deutschlands mit dem energiehungrigen Süden verbinden sollen, sind über das Planungsstadium bisher nicht hinausgekommen. Von den notwendigen Leitungen, die in der Summe eine Länge von etwa 8000 Kilometer hätten, ist bisher nur ein Bruchteil fertiggestellt. Ein großes Hindernis sind ausgerechnet grüne Wähler, die zum Beispiel wegen ihrer Angst vor Elektrosmog die eigentlich von Ihnen eingeforderte Energiewende unterminieren, indem sie gegen den Bau der Hochspannungsleitungen klagen: “Energiewende ja bitte, aber auf keinen Fall da, wo ich lebe!“ 

Leidtragende dieser juristischen Scharmützel sind wie so oft die Steuerzahler. Kann der anfallende Strom nicht transportiert werden, müssen die Windräder abgeschaltet werden, wobei die Eigner für das entgangene Geschäft zu entschädigen sind. Im Laufe der Jahre sind diesen mehrere Milliarden Euro überwiesen worden.

Wir halten fest, das Netz, von dem Frau Baerbock redet, gibt es in dieser Form noch nicht. Aber nehmen wir ihre Einsicht in den Fokus, dass regenerative Energien, die wie Wind- und Sonnenenergie hochvolatil sind, gespeichert werden müssten, wenn man für die sogenannte Grundlast keinen fossilen Energieträger wie Kohle und Gas oder gar die verteufelte Kernenergie verwenden möchte. Wie sieht es aus mit den Energiespeichern in Deutschland? Sehr bescheiden, um es vorsichtig auszudrücken. Käme es zu einer sogenannten Dunkelflaute und wäre Deutschland von einem auf den anderen Moment nur von seinen eigenen Speichern abhängig, gäbe es nach wenigen Stunden den totalen Blackout. Das ist ein Horroszenario mit katastrophalen Konsequenzen. Dieses wird realiter nur dadurch nicht wirklich, dass wir die Grundlast bis heute aus Kohle und Gas tätigen und im Bedarfsfall, ohne dass das öffentlich thematisiert wird, Atomstrom aus Frankreich oder Tschechien hinzukaufen können. Selbst dreckiger Kohlestrom aus Polen wird dankbar importiert. Um nun die Speichermisere in Deutschland zu ändern, böte es sich an, leistungsfähige Pumpspeicherkraftwerke zu bauen. Aber auch hier das Paradoxon grüner Ideologie: Ausgerechnet diese effiziente Technologie wird von klagewütigen Naturschützern verhindert. Das, was es an leistungsfähigen Speichern in Deutschland gibt, wurde fast ausschließlich im letzten Jahrhundert(!) fertiggestellt

Vor diesem Hintergrund wundert man sich nicht, dass Baerbock wie ein Magier das Netz als Energiespeicher aus dem Hut zaubert. Nur macht bei diesem Trick leider die Physik nicht mit. Das Netz ist nämlich kein irgendwie gearteter Behälter, indem man die Energie speichern könnte, wie warmes Wasser in der Badewanne. Die Energieübertragung durch Stromleiter wird durch die Elekrodynamik beschrieben und das genaue Verständnis dieses Phänomens bedarf eines gediegenen physikalischen Hintergrundwissens. Ganz bildlich gesprochen: So schnell die Energie im Stromleiter ist, so schnell ist sie auch wieder draußen. Und sie ist verdammt schnell. Die elektromagnetischen Felder bewegen sich mit Lichtgeschwindigkeit. Der Stromleiter ist bei diesem Prozess ein Medium und kein Gefäß. Es ist, will man es anschaulich fassen, ein bisschen wie mit dem Meißel des Bildhauers. Dieser überträgt die Kraft der Hammerschläge auf den Stein. Legt der Steinmetz diesen aus der Hand, dann sind die kräftigen Schläge nicht im Meißel gespeichert.

Auch eine Bundeskanzlerkandidatin, die vorgibt, “Probleme in ihrer Breite und Tiefe zu erfassen und anzugehen“ muss jetzt nicht wissen, was ein Energie-Impuls-Tensor ist. Die eigenen Grenzen zu kennen, wäre aber löblich. Noch schöner wäre es, den Wählern keinen Sand in die Augen zu streuen und ehrlich zu sagen, wo wir stehen. Im Moment ist die proklamierte Energiewende reines Wunschdenken, wobei die wichtigste Frage gar nicht diskutiert wird: Was hat der deutsche Alleingang, mit dem wir selbstgefällig unser Gewissen beruhigen, eigentlich mit dem globalen CO2-Problem zu tun? Vermutlich wenig. Wir schalten hier 10 Kohlekraftwerke ab. Bei der vorhersehbaren demographischen Entwicklung werden aber in Ländern wie Indien und Nigeria in den nächsten 30 Jahren 10 000 neue installiert werden müssen. Da spielt die Musik, auch wenn wir das in unserer deutschen Wohlfühloase nicht hören wollen. Wenn uns das CO2-Problem Ernst ist, dann wäre es höchste Zeit den Blick zu weiten!

                                      

Pippi-Langstrumpf-Mathematik

Zwei mal drei macht vier

Widdewiddewitt und drei macht neune

Ich mach‘ mir die Welt

Widdewidde wie sie mir gefällt

Hey Pippi Langstrumpf, ….


Sie haben es getan: Annalena Baerbock wurde auf dem Parteitag der Grünen mit einem fulminanten Ergebnis zur Kanzlerkandidatin gewählt. 98.5% der Delegierten gaben ihr ihre Stimme. Damit darf man zur Kenntnis nehmen, dass eine aufgehübschte Biographie, nicht korrekt deklarierte Nebeneinkünfte und frappierende Unwissenheit, was die wissenschaftlichen Aspekte ökologischer Bildung angeht, von den Grünen für Lässlichkeiten gehalten werden. Die Legitimation, das höchste deutsche Regierungsamt zu bekleiden, wird durch solche Lappalien offensichtlich nicht in Frage gestellt. Das ist für Außenstehende irritierend. Macht man sich allerdings mit den Parteiusancen vertraut, dann fällt auf, dass freifliegende Argumentationen nicht selten sind, besonders wenn sie sich sich auf fragwürdige Zahlen und windige Rechenoperationen “stützen“. Diesbezüglich befindet sich Annalena Baerbock in prominenter Gesellschaft. Man erinnere sich an das 2%-Ziel von Anton Hofreiter, das angeblich zentral ist, um die Klimakatastrophe abzuwenden. 2% von was? Wo bitte ist der Grundwert, auf den sich die Prozentzahl bezieht? Der promovierte Biologe meinte wohl das 2-Grad-Ziel, dessen korrekte Bezeichnung ihm entfallen war.

Probleme mit der Zahl Zwei hatte auch Herr Habeck. Alle zwei Tage verdoppelte sich angeblich die Inkubationszeit in der Coronaepedemie. Besser ginge es nicht! Dann müssten wir heute ein paar hundert Jahre warten, bis wir erkranken und würden von der Seuche erst erwischt, wenn wir sowieso schon tot sind. Zugegeben, die Worte “Inkubation“ und “Infektion“ haben am Anfang zwei gleiche Buchstaben. Man kann sie leicht verwechseln. Während Habeck also mit der Zahl Zwei kämpft, scheitern Cem Özdemir und Annalena Baerbock gemeinsam an der Prozentrechnung. Eine eindrückliche Performance lieferte Özdemir in der Sendung Brennpunkt (16.3.2011).

Sprecher: “Kritiker sagen: Dann geht in Deutschland entweder das Licht aus oder der Strom wird viel teurer. Sehen Sie das auch so?“

C. Özdemir: “Ach wissen Sie, wir kennen die Argumente. Die Argumente sind ja nicht ganz neu. Im Spitzenlastbereich, also nicht im Normallastbereich. Dann wenn der Energieverbrauch am höchsten in Deutschland ist, ungefähr mittags zwischen 11 und 12, verbrauchen wir ungefähr 80 Gigabyte. Wir produzieren aber ungefähr 140 Gigabyte. Das heißt, das Anderthalbfache dessen haben wir immer noch übrig, was wir brauchen. Selbst wenn wir die sieben ältesten Meiler abschalten würden, hätten wir immer noch mehr Strom als wir selbst im Spitzenlastbereich gebrauchen.“

Das ist ein verwirrendes Zitat. Wenn man ehrlich ist, stimmt in diesem eigentlich nichts. In den angewandten Wissenschaften treten Maßzahlen zusammen mit Maßeinheiten auf. Betrachten wir die folgende Aussage: “Der Aconcagua in Südamerika ist 6962 Meter hoch.“ Dann wird in dieser Aussage die Maßeinheit “ein Meter“ mit der Maßzahl 6962 multipliziert. Da Herr Özdemir über die Spitzenlast sprach, wollte er wohl etwas über die physikalische Leistung sagen. Diese wird aber in Watt gemessen. Bytes sind Maßeinheiten der Information und haben in diesem Zusammenhang nichts zu suchen. Wie er auf die angeblichen 140 Gigabyte kommt bleibt ebenfalls ein Rätsel. Meinte er die in Gesamtdeutschland installierte Leistung? Das ist aber keine “Energieproduktion“. Rätselhaft ist auch seine Prozentrechnung: “Das heißt, das anderthalb-Fache dessen haben wir immer noch übrig, was wir brauchen.“ Wenn die Spitzenlast 80 Gigawatt beträgt und den Grundwert markiert, dann ist das Anderthalbfache dieses Werts (150%) 120 Gigawatt. Die Summe ergäbe dann 200 Gigawatt. Nicht 140 Gigawatt. 140 Gigawatt sind lediglich 75 % mehr. Sind solche Berechnungen die Grundlage der künftigen Energieplanung? 

Annalena Baerbock ist eine Schwester im Geiste. Von ihr stammt das folgende Bonmot:

„Wenn alle so bei 25 Prozent stehen, dann ist das nicht mehr so große Koalition wie zu anderen Zeiten, die haben alle miteinander so 75 Prozent im Bund oder sogar ne Zweidrittelmehrheit.“

Auch wenn Vieles im Unklaren ist, was die Biographie von Frau Baerbock angeht, es ist sicher, dass sie ihr Abitur gemacht hat. Sie muss also 13 Jahre Mathematik gehabt haben. Natürlich lernt man da viele Dinge, die man als “Völkerrechtlerin“ nicht braucht. Algebra und Analysis? Überflüssig. Gut. Aber der mathematische Dreisatz, Prozentrechnung, der Umgang mit Wahrscheinlichkeiten sind für jeden modernen Menschen potente mentale Werkzeuge. Es lohnt sich, solche Fertigkeiten zu beherrschen, um in einer sich schnell verändernden Welt nicht den Überblick zu verlieren. Preisfrage: Wie viel Prozent entspricht eine Zweidrittelmehrheit? Da teilt man auf seinem Taschenrechner die Zwei durch die Drei. Wir erhalten 0.66666666… . Und wenn man weiß, dass die Dezimalbruchdarstellung einer Zahl auch als Prozentzahl gelesen werden kann, dann wissen wir, dass die Zweidrittelmehrheit 66,6666…% der Stimmen entspricht. Das ist mitnichten größer als 75%. 

Aber es kommt noch besser. In einem Interview  gab Annalena Baerbock Folgendes zum Besten:

»Wir haben Grundlast durch Biomasse und – das ist neu – das ist auch interessant für Start-Ups und Unternehmen, zum Beispiel Rechenzentren und große Supermärkte, die dann als Energieerzeuger(!) in den Markt reinkommen.«

»Wenn eine Kühlung bei einem riesengroßen Produzenten von minus 22 Grad in Zukunft dann auf minus 20 Grad runterkühlt, dann ist das Hühnchen immer noch kalt, aber wir können an der Grundlast das Netz stabilisieren.«

Hätte sie ihrem Kollegen Cem Özdemir zugehört und dessen einzig richtige Zahl aus seinem Zitat extrahiert, nämlich die 80, dann wüsste sie, dass die 5 Gigawatt Leistung, die durch Biomasse zur Verfügung steht, um den Faktor 16 erhöht werden müsste, um die Spitzenlast von 80 Gigawatt zu erreichen. Das sind 1600%! Zu glauben, die fehlenden 75 Gigawatt dadurch zu generieren, dass man die Kühlschränke in den Supermärkten ein bisschen herunterregelt, ist rührend. Aber bleiben wir in diesem Beitrag im Reich der Mathematik und verschieben die Diskussion des “Baerbockschen Netzspeichers“ auf später. In der Unterstufe lernt man, dass die ganze Zahlen, also die, die auch ein negatives Vorzeichen haben können, eine Ordnung besitzen. Das kann man sich auf dem Zahlenstrahl verdeutlichen. In der Mitte thront die Null, nach rechts werden die Zahlen immer größer, nach links immer kleiner. Die -22 steht also weiter links als die -20 und nicht andersherum. Und da haben wir schon wieder ein Problem mit der Zahl Zwei. Verändert man die Temperatur um zwei Grad, nämlich von -22 auf -20 Grad, dann wird das Hähnchen erwärmt(!) und nicht gekühlt. Diese Kleinigkeit wird Frau Baerbock wenig scheren. Trotzdem darf man Zweifel hegen, ob die Pippi-Langstrumpf-Mathematik Baerbockscher und Özdemirscher Prägung als intellektuelles Werkzeug taugt, um die ökologischen Probleme des 21. Jahrhunderts in den Griff zu kriegen.



Diese verflixten Nullen

“Deutschland hat Pro-Kopf-Emissionen von neun Gigatonnen pro Einwohner. Bangladesch, das ist zehnmal mehr als Bangladesch zum Beispiel.“ 

Da war Frau Baerbock der verhängnisvolle Satz in der Talkshow von Maybrit Illner am 13.12.2018 entschlüpft und plötzlich stand ein geheimnisvolles Wort im Raum: “Gigatonne“. Was mag das sein? Von ihren Gesprächspartnern war keine Antwort zu erwarten. Die Moderatorin, Peter Altmeier, Christian Lindner, der Teslamann Philip Schröder sowie Klimapapst Stefan Rahmstorf, niemand zuckte auch nur mit der Wimper oder rollte mit den Augen. Beredtes Schweigen. Nehmen wir deshalb zur Klärung das Wort auseinander! Die Bedeutung  von “Tonne“ ist klar. Dieses Wort bezeichnet 1000 kg. Aber, was bedeutet, die Vorsilbe “Giga-“? Erinnert irgendwie an die dicken Bohnen, die Gigantes, auf der Vorspeisenplatte beim Griechen. Oder an die Gigafactory von Tesla. 

Scheint also etwas Großes zu bezeichnen. So ähnlich wie “Mega-“. Tatsächlich hat “Giga-“ aber noch einen ganz anderen Punch als “Mega-“. “Mega“, aus dem Griechischen abgeleitet, bedeutet einfach “groß“. Eine Megalomanin ist eine Größenwahnsinnige, die sich etwa in Bereichen für kompetent hält, in denen sie keine Ahnung hat. Aber Giganten sind nicht einfach groß. Giganten sind echte Riesen! Verwendete Annalena Baerbock die “Gigatonne“ also nur als rhetorisches Stilmittel? Vielleicht wollte sie nur sagen, dass jeder Deutsche neun riesige Tonnen CO2 pro Jahr in die Luft bläst. Aber Politik hat eben nicht nur theatralische Komponenten. Auch Inhalte spielen eine Rolle. Und in diesem Kontext würde es sich für die Kanzlerkanditatin lohnen, in ein Physikbuch zu schauen. Die Vorsilbe “Mega-“ bedeutet dort, dass man die dahinterstehende Größe mit einer Millionen multipliziert. Bei “Giga-“ sogar mit einer Milliarde. Eine Milliarde sind eintausend mal eine Millionen. Da hätte auch Annalena Baerbock skeptisch werden müssen. Jeder Deutsche verursacht ihrer Meinung nach den Ausstoß von Neunmilliarden Tonnen CO2! 

Der Physiker und Nobelpreisträger Enrico Fermi war bekannt für seine kühnen Überschlagsrechnungen, die er in Windeseile im Kopf vollziehen konnte. Für Fermi war es ein Zeichen von Intelligenz, immer ein Gefühl für die richtigen Größenordnungen zu haben. Da hilft es, große Zahlen anschaulich zu machen. Was wiegt eine Tonne? Ein Kubikmeter Wasser. Nur zur Sicherheit: Das entspricht einem Würfel mit der Kantenlänge von einem Meter. Wenn also Frau Baerbock in ihrer früheren Studentenbude ihr Badezimmer geflutet hätte und dieses eine Grundfläche von vier Quadratmetern und eine Höhe von zwei Metern und fünfundzwanzig Zentimetern gehabt hätte, dann wäre das in diesem Quader eingeschlossene Wasser neun Tonnen schwer gewesen. Neun Tonnen, das ist tatsächlich das Gewicht, das jeder Deutsche an CO2 im Schnitt pro Jahr emittiert. Aber wie stellt man sich neun Gigatonnen vor? Als neun riesige Würfel mit einer Seitenlänge von einem Kilometer? Das ist korrekt aber immer noch zu abstrakt. 

Stellen Sie sich vor, Frau Baerbock tritt in Berlin aus dem Kanzleramt! Direkt vor ihr hebt sich eine gigantische gläserne Pyramide in den Himmel. Deren Grundfläche soll vier Quadratkilometer betragen. Würde Annalena Baerbock die Pyramide, die einen Teil von Moabit, die Kurfürstenstraße, Teile von Kreuzberg und von Berlin-Mitte bedeckt, umlaufen, wäre sie zwei Stunden unterwegs. Wenn diese erhabene gläserne Pyramide Neunmilliarden Tonnen Wasser beinhalten würde, dann ragte sie 6750 Meter hoch in den Berliner Himmel. Damit wäre sie fast so hoch wie der Aconcagua, der höchste Berg Südamerikas. Wir wollen in diesem Gedankenexperiment übrigens annehmen, dass das Wasser in der Pyramide nicht gefriert, denn die oberen 4000 Höhenmeter der gläsernen Pyramide wären von ewigem Eis bedeckt. Hätte diese Pyramide an ihrem Fuß einen riesigen Stöpsel, um das Wasser abzulassen, dann könnte man mit ihrem Inhalt dreimal den Starnberger See füllen. Das ist immerhin der fünftgrößte See Deutschlands. Wenn man jetzt das schnuckelige Badezimmer von Frau Baerbock mit dieser wahrhaft gigantischen Pyramide vergleicht, bekommt man eine Anschauung von der Größe ihres Denkfehlers.

Leider ist das nicht alles. Da wäre noch die Sache mit Bangladesch. Was meinte sie mit: “Bangladesch, das ist zehnmal mehr als Bangladesch zum Beispiel“? Dieser Satz wird wenig diskutiert. Was bedeutet hier “das ist“? Wagen wir einen ersten Versuch! In Bangladesch emittieren die Menschen pro Person 0.54 Tonnen CO2 im Jahr. Würde man diese Zahl mit der Emission des Durchschnittsdeutschen in Beziehung setzen, dann blasen die Deutschen etwa siebzehnmal mehr CO2 in die Luft als die Bangladescher. Dieser vernünftige Vergleich scheidet also aus. 17 ist nicht 10. Was dann? Hier kriecht einem ein verstörender Verdacht ins Hirn: Meinte Annalena Baerbock allen Ernstes, was sie sagte? Bangladesch hat etwa 166 Millionen Einwohner. Diese Zahl multiplizieren wir mit 0,54 Tonnen. Das ergibt 89,64 Megatonnen CO2. Das ist ziemlich genau der hundertste Teil der von ihr proklamierten neun Gigatonnen. Da hätte Frau Baerbock sich um eine Zehnerpotenz verhauen. Kann vorkommen. Der “Baerbock“ würde dann lauten: Ein einziger Deutscher emittiert hundertmal mehr CO2 als 166 Millionen Bangladescher zusammen. Wahnsinn. Oder meinte sie doch etwas ganz anderes, ohne es zu sagen? Die jährlichen Emissionen aller Deutschen summieren sich auf etwa 756 Millionen Tonnen C02, multipliziert man die Einwohnerzahl der BRD mit den proklamierten neun Tonnen CO2 pro Person. Die Emissionen aller Bangladescher liegen wie angeführt bei 89,64 Millionen Tonnen. Damit würden alle Deutschen 8,4-mal mehr CO2 in die Atmosphäre entlassen als alle Bangladescher. Ist es das, was sie ausdrücken wollte? Wir wissen es nicht. Wir vermuten nur, dass sie in irgendeiner Weise für die Sendung instruiert worden ist, ohne genau zu verstehen, wovon die Rede war. Und dann geisterte da eine Information in ihrem Kopf herum, ohne dass sie in der Lage gewesen wäre, diese einzuordnen und in verständlichen Worten zu artikulieren.

Gefährliche Grünfühler

Es ist das Verdienst der ökologischen Bewegung, den Umweltgedanken in unseren Köpfen verankert zu haben. Es ist das Drama der ökologischen Bewegung, dass sie just diesen Gedanken zu Grabe trägt. Eine Polemik.

von Marco Wehr



Als der Medizinprofessor Martin Bleif mit seiner kleinen Tochter auf dem Motorroller durch den Tübinger Fußgängertunnel fuhr, spuckte ihm ein Fahrradfahrer, der sich im Besitz der rechten Gesinnung wähnte, wütend ins Gesicht. Tatsächlich hatte sich der Arzt auch wissenden Auges über ein Verbot hinweggesetzt. Es war eine der ersten Amtshandlungen von Oberbürgermeister Palmer, vor dem Tunnel ein Verbotsschild zu befestigen, welches das bis dato funktionierende Miteinander von Fußgängern, Rad- und Mopedfahrern beendete. Letztere wurden als Stinker gebrandmarkt und verbannt. Vordergründig ging es um Ökologie. Doch das glaubte Bleif nicht. Er berechnete, dass ein Fußgänger, der lässig mit einer Zigarette in der Hand durch den Tunnel schlendert, die Luft stärker verpestet als ein Junge auf seinem Töfftöff. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass seit dem Verbot die Mopedfahrer kilometerlange Umwege fahren müssen und ihre Abgase vermehrt woanders in die Luft blasen. 

Man muss also die Frage stellen, wie eine solche Respektlosigkeit zu “begründen“ ist. Gibt es neben dem ökologischen (Schein)argument noch andere? Der Lärm kann es nicht sein. Grölende Passanten und ewig dudelnde Straßenmusiker sind im Tunnel häufig anzutreffen. Auch die Geschwindigkeit scheidet aus, da geübte Kampfradler ein Mofa lässig überholen. 

Damit sind wir beim zentralen Punkt: der rechten grünen Gesinnung. Das ist eine durch nichts zu erschütternden Einbildung, auf der richtigen Seite zu stehen, auch wenn die Fakten etwas anderes nahelegen. Menschen dieses Schlages kann man als Grünfühler bezeichnen. Sie wähnen sich grün, obwohl ihr Verhalten oft genug das Gegenteil von dem bewirkt, was sie zu bewirken vorgeben. Dabei paart sich die Blindheit für die Faktenlage mit einer verstörenden Selbstgefälligkeit. Sie erhebt den Grünfühler in den Rang zu loben, zu tadeln oder – wie das spuckende Lama im Tunnel – zu strafen. Zu allem Überfluss kommt zu diesen Charaktereigenschaften noch eine gewisse Doppelbödigkeit dazu. Bei sich selbst drückt man die Augen zu, die Knute ist für die anderen reserviert.

Denn: Welches Auto ist symbolisch für Tübingen? Der wendige Elektro-Smart? Nein. Hier pilotiert man gerne einen VW-Bus mit dem CW-Wert eines Panzers. Ökologische Signalwirkung hat dann aber der große Fahrradhalter am Heck. Und was sind des Tübingers liebste Reiseziele? Das Allgäu oder die Moselschleife? Weit gefehlt. Gemäß einer Silvesterumfrage des Tagblatts präferiert man hier ferne Wüsten oder tropische Atolle. Alles Orte, die sich bequem mit dem Liegefahrrad ansteuern lassen. 

Maßnahmen, deren ökologischen Sinn man diskutieren muss, sind auch im öffentlichen Raum endemisch. Das fängt bei der Sperrung der Mühlstraße an. Es macht ja Sinn, 70 m in der Innenstadt zu schützen, um 7000 m Umgehungsstraßen zu belasten. Egal: Auf diesen Straßen bewegt man sich ökologisch korrekt. Sie gleichen einem Verkehrskindergarten: Überall blinken Smileys, um dem Autofahrer ein emotionales Feedback zu geben. Da wühlt man gerne im Getriebe und röhrt im zweiten Gang mit 30 durch die Straßen. Zur Belohnung gibt es ein grünes Lächeln. Nur die Unbelehrbaren werden kalt vom Blitz erwischt. Noch das kleinste Kaff nennt ein Arsenal von Blitzsäulen sein eigen, und die Dorfvorsteher wetteifern untereinander mit Anzahl und Größe, so wie es früher die Adelsgeschlechter der Toskana mit ihren Türmen machten. Das Problem? Trinken Sie in der Nachmittagssonne einen Most im Schwärzloch und bewundern Sie die Unterjesinger Schlange! Seit der Temporegulierung im Dorf gibt es einen kilometerlangen Rückstau bis nach Tübingen.

Aber der ist ökologisch korrekt. Die verqualmte Luft bleibt zwischen Tübingen und Unterjesingen gefangen und wird es nicht wagen, die Stadtgrenzen zu überschreiten. Das ist auch besser so, denn große Bäume, die helfen könnten, die Luft reinzuhalten, werden zumindest in Tübingen konsequent gefällt. Aber das sind Kleinigkeiten. 

Eine ökologische Lichtgestalt wie Boris Palmer agiert in anderen Dimensionen. Große Teile der pittoresken Tübinger Altstadts mit schnöden Wärmedämmplatten kondomisieren? Kein Problem! Für Palmer wäre es auch denkbar, Windräder so hoch wie der Kölner Dom in der Nachbarschaft der idyllischen Wurmlinger Kapelle zu platzieren. Als Mann der Tat muss man Zeichen setzen und darf sich nicht durch Gefühligkeit verunsichern lassen. Was soll man dazu sagen? Bei Lichte besehen hat der Grünfühler die Einstellung des mittelalterlichen Flagellanten. Gerade der Schmerz, die nachhaltige Verschandelung von Städten und Landschaften, signalisiert, dass man es ernst meint und sich reuig einem höheren Ziele beugt. Was zählen da ästhetische Belanglosigkeiten?

Bleibt nur eine ketzerische Frage: Macht das alles ökologisch einen Sinn? Da sind Zweifel erlaubt. Autos, die hochtourig durch die Stadt kriechen, verbrauchen nicht zwangsläufig weniger Benzin, als solche, die ein bisschen schneller sind. Bei der Wärmedämmung eine Energieersparnis zu erzwingen und dabei Materialien zu verwenden, die als hochgiftiger Sondermüll deklariert werden, leuchtet auch nicht sofort ein. Zudem wäre wohl ein Brand in unserer Innenstadt ein rechtes Höllenfeuer. Die Dämmplatten, einmal in Flammen, lassen sich fast nicht mehr löschen. Und die hofierten Windräder? Sie sparen bis zum heutigen Tag kein CO2 ein. Die “gesparten“ Emissionen werden wegen des Europäischen-Emissions-Zertifikategesetz an anderer Stelle wieder in die Luft geblasen. 

Wie kommt es zu solchen Fehleinschätzungen? Es ist eben die verführerische Kraft des rechten Gefühls, die fast jeden Unsinn möglich macht. Nicht grün handeln ist das Gebot der Stunde, sondern sich für grün zu halten. Was ist schließlich erhebender, als der Glaube, die Welt zu retten? Das ist ein Gefühl von narkotisierender Kraft. Vor diesem Hintergrund sieht man sich aber mit einem verstörenden Paradoxon konfrontiert: Es ist das Verdienst der ökologischen Bewegung den Umweltgedanken in unseren Köpfen verankert zu haben. Es ist das Drama der ökologischen Bewegung, dass sie just diesen Gedanken zu Grabe trägt. Dabei machen die Grünfühler so viele Denkfehler, dass man nicht weiß, wo man anfangen soll. 

Ganz oben steht die Unfähigkeit, eine stringente ökologische Prioritätenliste anzulegen. Was ist primär auf der Agenda ökologischen Handels?! Die Vermeidung von CO2, das Aus der Atomkraft oder die Rettung von Fledermäusen, Zauneidechsen oder Juchtenkäfern? Wie ein kleines Kind möchte man eigentlich alles auf einmal haben. Doch leider sind etwa Arten- und Landschaftsschutz sowie der Ausbau regenerativer Energien nicht unabhängig voneinander zu verhandeln. Das eine geht auf Kosten des anderen. Entscheidungen ließen sich nur dann nachvollziehen, wenn begründet würde, weshalb das eine dringlicher ist als das andere. Aber bei den Grünfühlern ist irgendwie alles irgendwie wichtig. So lassen sich argumentative Eiertänze nicht vermeiden. Da wird wegen des Juchtenkäfers ein Milliardenprojekt wie Stuttgart 21 in Frage gestellt oder man angelt Zauneidechsen für 8600 Euro pro Tier mit Schlingen aus den Löchern. Doch dann einen Salto rückwärts! Eben waren die Tierchen noch im Fokus, jetzt herrscht Blindheit. Plötzlich sind es vertretbare Friktionsverluste, wenn Windräder Kulturlandschaften verschandeln,  Greifvögelpopulationen ausradieren oder die sonst hofierten Fledermäuse zu Hackfleisch verarbeiten. Und wenn man das unsägliche Ökobenzin E 10 wider jeder Vernunft puschen will, spielt Artenvielfalt auch keine Rolle mehr. Raps, Raps, Raps, wohin das Auge blickt.

Neben der Unfähigkeit Prioritäten zu setzen, neigt der Grünfühler zur Pusemuckel-Politik. Das großspurige “Global denken, lokal handeln“ ist ein müdes Lippenbekenntnis. Schon der Zusammenhang des Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) mit dem Europäischen-Emissions-Zertifikategesetz ist dem Grünfühler schwer zu vermitteln. Es ist auch besser den Kopf in den Sand zu stecken: Die Reduktion von CO2 in der europäischen Union geht im Schneckentempo vorwärts, da sich die Gesetze gegenseitig aushebeln. Dabei ist zu wünschen, dass das Zertifikategesetz, das die Kreativität der Marktteilnehmer fördert, weiter ausgebaut wird, während das muffig-planwirtschaftliche EEG entschlackt werden muss. 

Aber selbst der Fokus auf Europa ist zu eng. Klimaschutzpolitik ist ein globales Problem und kann auch nur global gelöst werden. Dazu gehört die Einsicht, dass ein Markt nicht nur eine Nachfrage- sondern auch eine Angebotsseite hat. Dabei haben die Länder, die fossile Brennstoffe verkaufen, naturgemäß andere Interessen als die, die versuchen die Nachfrage nach diesen zu vermindern. Gelänge es uns in der EU durch ausgiebiges Fahrradfahren den Verbrauch fossiler Brennstoffe zu reduzieren, sänke die Nachfrage. Hört sich gut an! Leider beeinflusst das den Preis. Öl, Kohle und Gas würden billiger. Das freut alle Länder, die von dem Wohlstand träumen, den wir schon lange haben. Die schlagen bei der billigen Energie sofort zu. Verfeuert werden die Klimakiller dann woanders. Und so nimmt die Atmosphäre auch im beschaulichen Tübingen Schaden, selbst wenn der Schlot in Burkina Faso steht. Und genau auf diese Weise werden die fossilen Brennstoff unweigerlich solange verfeuert, bis sie zu Neige gehen. Das ist aber der schlimmste  Fall, den wir eigentlich vermeiden wollen. Gibt es Lösungen? Wenn man wüsste, wie die Luft zum Atmen, die von allen Menschen gemeinsam genutzt wird, mit einem Preis versehen werden könnte, den Verschmutzer rund um den Globus zu bezahlen hätten, wäre ein wichtiger Schritt getan. Eine kleine Chance gäbe es auch, wenn die Erzeugungskosten regenerativer Energien mit denen fossiler Energien konkurrieren könnten. Doch das ist ein ferner Traum. Leider sorgt gerade das patriarchalisch-besserwisserische EEG mit seinen tausend Sonderregelungen für das genaue Gegenteil. Da sich viele Windmüller und Sonnenkönige wegen der opulenten Einspeisegarantien lange Zeit die Wasserhähne vergolden konnten, war der Innovationsdruck, effizienter und klüger zu produzieren, in Deutschland nicht besonders ausgeprägt.

Zu guter Letzt weigert sich der Grünfühler beharrlich, Geld so einzusetzen, dass es der Umwelt optimal nutzt. Es wäre zum Beispiel ausgesprochen sinnvoll, die 500 Milliarden Euro, die die “Energiewende“ in etwa kostet, dort zu investieren, wo sie am effizientesten arbeiten würden. Alles andere ist ein Verrat an den ökologischen Notwendigkeiten. Dafür bräuchte man allerdings – siehe oben – eine klar definierte Prioritätenliste. Doch dieses Problem wird von den Grünen nicht einmal in Ansätzen diskutiert. Im Gegenteil: Die Paradoxphilosophie des Grünfühlers funktioniert exakt andersherum. Deshalb ist sie eine Gefahr für unsere Umwelt. Es gilt ja als Ausweis von Ernsthaftigkeit, das Geld mit beidem Händen zum Fenster rauszuschmeißen und sich um dessen ökologische Hebelwirkung nicht zu scheren. Man meint damit zu zeigen, dass einem für die Umwelt nichts zu teuer ist. Aus der verqueren Logik des Gefühls gedacht, ist das nachvollziehbar. Für unsere Umwelt ist eine solche “Denkweise“ ein Debakel. 

Da ökologische Verwirrtheit skaleninvariant ist und deshalb in vergleichbarer Form beim einzelnen Menschen, in Familien, Dörfern, Städten Ländern und Kontinenten zu finden ist, landen wir zu guter Letzt wieder in Tübingen, neben Freiburg der Welthauptstadt der Grünfühler. 500 000 Euro lässt man sich hier die Verrücktheit kosten, die Ammer auf ein paar Meter vor dem Technischen Rathaus einseitig(!) zu renaturieren. Und damit jeder das grüne Projekt bewundern darf, ist dort fast der gesamte alte Baumbestand abgeholzt worden. Eine paradoxe Meisterleistung und leider mehr als eine lokalpolitische Schrulle. Diese Denke hat Methode und zwar zu unserer aller Schaden. 

Grüne Trugblüten

Ohne die AFD sind die Regierungserfolge der Grünen nicht denkbar. Außerdem geben sie ihren Wählern das Gefühl moralisch auf der richtigen Seite zu stehen, auch wenn sie die drängenden Probleme unserer Zeit nicht lösen

von Marco Wehr


“Ich war in meinem ganzen Leben an keinem Thema so sehr interessiert wie an diesem über Orchideen,“ schrieb Charles Darwin in einem Brief 1861. 

Tatsächlich sind diese Blumen nicht nur schön. Sie haben im Laufe der Evolution auch Strategien entwickelt, die an Raffinesse kaum zu übertreffen sind. Könnten uns diese Strategien aus dem Reich der Biologie helfen, ein Rätsel in der Politik zu beleuchten? Wie ist der Erfolg der Grünen zu erklären? Und warum leiden die früheren Platzhirsche CDU und SPD an einer rätselhaften Schwindsucht und sind nur noch ein Schatten ihrer selbst? Tatsächlich existieren Parallelen.

Der tropische Regenwald ist in seinem Herzen finster. Von den Kronen der Urwaldriesen beschattet kommt auf dem Boden fast kein Licht an. Wer von der Dunkelheit ins Helle will, muss sich mit brachialer Kraft nach oben kämpfen und selbst zum Giganten werden oder er braucht einen raffinierten “Plan“. Die Orchideen haben sich für das Raffinement entschlossen. Der Wind hebt die Samen der Orchideen in die Kronen der höchsten Bäume, wo sie auf den Ästen zu liegen kommen. Doch damit scheint ihr Schicksal besiegelt zu sein. Überall strecken Pilze ihre Tentakeln nach ihnen aus. Doch der Same der Orchidee ist ein Opfer, das dem Jäger auflauert! Nicht der Pilz frisst den Samen. Der Same zwingt den Pilz, sich seinem Regime zu beugen. Er muss der wachsenden Orchidee die Nährstoffe liefern, die sie selbst nicht zu schaffen in der Lage ist.

Nimmt man einen Szenenwechsel vor, dann profitieren auch die die Grünen von einem zwielichtigen Spieler im Hintergrund. Es gibt ein unsichtbares Band zwischen Ihnen und der AFD. Ohne die AFD sind die Wahlerfolge der Grünen und die sich daraus ergebende Regierungsverantwortung in den Bundesländern schwer vorzustellen! Auch hier handelt es sich um eine asymetrische Beziehung, aus der die Grünen im Besonderen und die Linksparteien im Allgemeinen einen großen Vorteil ziehen. 

Man betrachte die Ergebnisse der letzten Landtagswahl in Baden-Württemberg: In der Summe ergeben die grün-roten Stimmen 47,2 Prozent der Stimmen. Die Anhänger einer liberal-konservativen Politik kommen auf 47,3 Prozent der Stimmen. Die Gruppen sind ungefähr gleich stark. Aber dieser Gleichstand wird sich niemals in vergleichbaren Machtverhältnissen niederschlagen! Das liegt an der AFD, die in Deutschland zur Oppositionspartei verdammt ist. Alle anderen Parteien verweigern die Zusammenarbeit. Damit wird die AFD zum Garanten links-grüner Macht. Sie schwächt das konservativ-liberale Lager um den entscheidenden Anteil ihrer Stimmen. Die AFD ist damit ein Stimmengrab. Solange die AFD nicht die absolute Mehrheit erreicht, ist es für Parteien mit linker politischer Gesinnung von Vorteil, wenn die AFD stark ist. 

Jetzt ist es aber nicht nur die Wechselbeziehung zwischen Grünen und der AFD, die Erstere erfolgreich macht. Die Grünen sind auch verführerisch. So wie die Orchideen in luftiger Höhe zum Licht streben, verehren die Grünen und deren Wähler die hohe Sonne der Moral. In diesem Zusammenhang haben sie in Deutschland die Agenda gesetzt. Das überrascht nicht. Sie stehen für Werte, die jeder vernünftige Mensch im ersten Moment direkt zu unterschreiben bereit wäre. Wer kann gegen die Erhaltung unseres Lebensraum sein? Wer möchte keine weltoffene internationale Gesellschaft? Und was spricht gegen Toleranz für 50 Geschlechter aller Art? Diese Werte haben eine betörende Anziehungskraft. Trotzdem sind sie Teil eines Täuschungsmanövers.

Im Orchideenbild entspricht der Verführungskraft dieser Werte die berückend schöne Form der Blume. Doch Vorsicht! Die Orchideen lassen nicht nur die Pilze für sich schuften. Ihr Trumpf ist die Trugblüte, Die gaukelt den bestäubenden Insekten eine Wirklichkeit vor, die so nicht existiert. Oft gleichen die Blüten der Orchideen weiblichen Insekten, die den männlichen die Sinne vernebeln, so vollendet ist deren Gestalt in Farbe und Form. Selbst das weibliche Haarkleid wird perfekt imitiert. In einem wissenschaftlichen Experiment paarten sich liebestollen Männchen lieber mit der Blume als mit ihren Weibchen. Doch für die Männchen gibt es bei diesem Scheinakt nichts zu holen. Nicht einmal Nektar gönnt ihnen die Blüte. Stattdessen tragen die Betrogenen den Pollen der Blume von einem Ort zum anderen und sorgen so für deren Bestand.

Im politischen Bild entspricht dem gelackmeierten Männchen der grüne Wähler. Obwohl es beruhigend ist, sich moralisch auf der richtigen Seite zu wähnen, hätte er vermutlich nichts dagegen, wenn die real existierenden Probleme gelöst würden.Aber so, wie die Luftwurzeln der Orchideen träge im Wind schwingen und nicht im festen Boden verankert sind, ist es einfacher, es sich im moralischen Ideenhimmel bequem zu machen, als sich in faktischer Kärrnerarbeit zu ermüden. Die Beispiele sind Legion: Das Erneuerbare Energiengesetz (EEG), zentraler Eckpfeiler der Energiewende, wurde ursprünglich von den rot-grünen Regierungskoalitionen unter der Gerhard Schröder (1998-2005) mit großem Aplomb auf den Weg gebracht. Dieses Gesetzeswerk ist in seinem Geiste ein planwirtschaftliches und leider auch ineffizientes Instrument. Es verschließt es sich verantwortungsvollem ökologischem Denken, da die einzig wesentliche Frage nicht gestellt wird: Wie gelingt es unter Einsatz der vorhandene finanziellen Mittel soviel CO2 wie möglich zu vermeiden? Stattdessen werden einseitig und mit einer bestimmten Voreingenommenheit Technologien wie Windkraft und Solartechnik gefördert. Vor allen Dingen die Solartechnik hat vergleichsweise hohe CO2-Vermeidungskosten. Zu allem Überfluss ist dass EEG ein bürokratischer Moloch. Dessen inhärente Ineffizienz konnten auch die nachfolgenden Merkelkoalitionen dem Gesetz nicht austreiben. So untergräbt das byzantinische Gesetzeswerk als rot-grünes Residuum bis in unsere Zeit eine ernsthafte und effektive Ökologie. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Egal, ob man sich die Treibhausgas-Emissionen pro Kopf anschaut oder diverse Klimaschutz-Indizes, Deutschland dümpelt träge im europäischen Mittelfeld. Unser Land wird in diesem Zusammenhang nicht nur von den pragmatischen Briten überflügelt, die eine unaufgeregt-effektive Umweltpolitik machen. Deutschland liegt auch immer deutlich unter den Werten der Europäischen Union in ihrer Gesamtheit! Obwohl sich in den meisten Ländern der EU deutlich weniger Windräder drehen und weniger Solarmodule auf den Dächern sind. Zeit zum Umdenken.

Die Multi-Kulti-Migrationspolitik als Erfolg zu bezeichnen ist gleichfalls gewagt. Bis heute gelingt es dem linken Teil des deutschen Parteienspektrums nicht, Willige, die die deutsche Sprache lernen, um hier zu arbeiten und auf diese Weise zum Gemeinwesen beizutragen, von denen zu trennen, die es sich im sozialem Netz gemütlich einrichten. Das hat irritierende Konsequenzen. Menschen werden abgeschoben, die fließende deutsch sprechen, eine Familie haben und mehr als 10 Stunden für diese arbeiten, während Clankriminelle mit hochmotorisierten Boliden vor dem Sozialamt vorfahren, um ihre Stütze abzuholen.

Auch die aggressive Genderpolitik, die im Moment die Schlagzeilen beherrscht, ist nicht geeignet, Toleranz zu fördern. Beim Versuch Minderheiten vor Diskriminierungen zu schützen, greift sie selbst zur Diskriminierung. Weiße werden rassistisch abgekanzelt. Und in akademischen Kreisen beginnen sich Menschen zu schämen, wenn sie zu ihrem biologischen Geschlecht stehen. Vorwürflich werden sie als “heteronormativ“ bezeichnet. Selbst engagierte Schwule wie Alexander Zinn konstatieren in der FAZ, dass die linke Identitätspolitik zu einem piefigen Tribalismus führt. 

So unterliegt das Faktische dem Idealen. In diesem Zusammenhang gibt es ein weiteres Paradox zu bestaunen. So wie die Orchidee den Urwaldriesen braucht, damit sie zum Licht kommt, so brauchen die Grünen Menschen, die das Geld erwirtschaften, dass sie mit generöser Geste verteilen. Nur dankbar sind sie nicht. Erfolgreiche Unternehmen werden nicht dafür geschätzt, dass sie durch die Steuern, die sie abführen, einen gut ausgestatteten Sozialstaat möglich machen. Sie werden sie als kapitalistisch geziehen und mit Verachtung gestraft.

Moralin scheint eine narkotisierende Wirkung zu haben, das aber nicht nur grüne Gehirne betäubt. Auch führende Köpfe ehemals liberal-konservativer Parteien sind betroffen. Im Bestreben den Erfolg der Grünen zu kopieren, geben sie sich einer selbstzerstörerischen Mimikry hin. Das enttäuscht zum Beispiel Wähler der CDU. Die wählen dann lieber das Original oder wenden sich aus Trotz der AFD zu, womit ihre Stimmen unwirksam werden. Der Salto rückwärts von Merkel beim Atomausstieg, die kritiklose Unterstützung der Energiewende mit einer eindimensionalen Förderung der Eletromobilität, das Aushebeln des Dublin-Abkommens bei der Massenmigration, der laxe Umgang mit den Maastricht-Vereinbarungen, die Zögerlichkeit das kriminelle Verhalten von Clans als solches zu bezeichnen, hat dazu geführt Stammwähler zu vergraulen. 

Der gravierende Denkfehler dieser opportunen Politik liegt in dem Umstand, dass eine Partei wie die CDU von dieser Anbiederung nicht profitiert. Im Gegenteil. Der Zustrom der Wähler zur AFD schwächt bürgerliche Standpunkte. Wie oben begründet führt das zur Stärkung eines weltfremden grünen Idealismus. Für die liberal-konservativen Parteien besteht die einzige Lösung darin, eine ehrliche Politik zu machen und den noch nicht radikalisierten AFD-Wählern im Rahmen ihres eigenen Parteiprogramms Lösungen anzubieten, sie zurückzuholen und ihren Stimmen wieder Wirksamkeit zu geben. Tun sie das nicht, werden sie über Jahrzehnte die bestehenden Machtverhältnisse zementieren und je weiter sie in die grüne Falle laufen, desto stabiler wird dieser Prozess.

#ModernerLiberalismus

Von Thomas Lange 

Der Liberalismus hat ein Imageproblem. Treffen seine Wortführer womöglich zu selten den richtigen Ton in öffentlichen Debatten? Zeit zu fragen: Was macht modernen Liberalismus aus? 

Moderner Liberalismus steht für Selbstbestimmung und (!) Solidarität. Eine liberale Gesellschaft schätzt die menschliche Einzigartigkeit und Vielfalt. Sie schützt daher unsere individuellen Freiheiten und fördert unsere Selbstentfaltung. Sie stärkt aber auch den sozialen Zusammenhalt, federt Härten ab, fängt auf, wenn Lebensentwürfe scheitern, und verhilft immer wieder zu zweiten Chancen. Solidarität endet dabei nicht am nationalen Tellerrand – erst recht nicht, solange es Armut auf der Welt gibt. 

Moderner Liberalismus steht zur Marktwirtschaft. Unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft ist sie das beste bekannte Mittel, um möglichst vielen Menschen ein gelingendes Leben zu ermöglichen. Eine gut geordnete Marktwirtschaft ist anderen Systemen daher nicht nur ökonomisch überlegen, sondern auch moralisch. Fehlentwicklungen in real existieren Marktwirtschaften lassen sich in der Regel nicht durch „Überwindung“ von Marktmechanismen lösen, sondern durch angepasste Rahmenregeln und kluge Re-Designs des Marktes. 

Moderner Liberalismus steht für Nachhaltigkeit. Er steht für rationalen Umwelt- und Klimaschutz, der ohne Symbolpolitik und Moralismus auskommt und sich stattdessen – nüchtern und sachlich – an den Kriterien Wirksamkeit, Effizienz und Gerechtigkeit ausrichtet. Marktbasierte Instrumente, die sich am Verursacherprinzip orientieren und den Wettbewerb und das ökonomische Prinzip der Arbeitsteilung als bewährtes Entdeckungsprinzip für die kreativsten und besten Lösungen nutzen, spielen dabei eine wichtige Rolle. Nachhaltigkeit heißt aber auch, die finanziellen Handlungsspielräume zukünftiger Generationen nicht über Gebühr einzuschränken: Vor allem die sozialen Sicherungssysteme müssen demographie- und zukunftsfest gemacht werden. 

Moderner Liberalismus geht davon aus, dass Wissen und Kreativität unbegrenzte Ressourcen sind. Daraus resultiert sein Optimismus, dass in Fortschritt und Vernunft die Schlüssel zur Lösung der gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit liegen. 

Moderner Liberalismus steht für Zukunftsperspektiven. Er setzt sich für einen ungehinderten und gerechten Zugang zu Bildung ein, für individuelle Förderung und Befähigung, für Aufstiegschancen – in jeder Lebensphase. Er bekennt sich auch klar zur Exzellenz: Spitzentalente verdienen Spitzenförderung. Er setzt auf Fortschritt, neue Technologien und Innovation – und hat dabei immer die Menschen im Blick, ihre Freiheits- und Selbstbestimmungsbedürfnisse ebenso, wie ihre Schutz- und Solidaritätsbedürfnisse. Im Strukturwandel setzt er auf individuelle Befähigungsstrategien (z.B. Lebenslanges Lernen) und Teilhabe am Fortschritt, nicht auf strukturkonservative Besitzstandswahrung. 

Moderner Liberalismus steht für Respekt vor Anstrengung und Leistungsbereitschaft. Er honoriert individuelle Leistungen und Leistungsfähigkeit, erkennt aber auch an, dass Menschen mit unterschiedlichen Talenten gesegnet sind, unterschiedliche Startvoraussetzungen haben und auf sehr unterschiedliche Weise Glück und Unglück erfahren können. Wer leistet, was er kann, verdient Anerkennung und Respekt. 

Moderner Liberalismus sucht die Debatte und macht es sich nie leicht. Er versucht mit Argumenten zu überzeugen – akzeptiert aber auch, dass Positionen verrückbar sind. Er weiß, dass die Welt komplex ist, und anerkennt, dass es auf schwierige Fragen keine einfachen und eindeutigen Antworten gibt. Er hinterfragt Überzeugungen und lässt Zweifel selbstbewusst zu. Er kennt den Unterschied zwischen Moralismus und Moral. 

Moderner Liberalismus verlässt sich nicht darauf, dass moralische Appelle und eine gute Gesinnung groß-gesellschaftliche Probleme lösen. Er setzt stattdessen auf die „Verbesserung rechtlicher und ordnungspolitischer Institutionen in der Absicht, uns zu bewegen, auch aus Eigeninteresse zu tun, was das Gemeinwohl erfordert“, wie Hermann Lübbe es formulierte. 

Moderner Liberalismus weiß um die Verletzlichkeit der Demokratie und der offenen Gesellschaft. Er versucht sie daher nicht nur mit Paragraphen und Ordnungsmacht zu schützen, sondern setzt sich auch für einen zivilisierten Ton und Umgang im gesellschaftlichen Diskurs ein, hört zu und respektiert andere Meinungen, grenzt nicht aus, polarisiert nicht, skandalisiert nicht. Er weiß um den gesellschaftlichen Wert von Ausgleich und Kompromissen. 

Für den modernen Liberalismus sind die Freiheit und Würde des Einzelnen und die Solidarität unter den Menschen keine Widersprüche. Gemeinsam machen sie das gelingende Leben aller Menschen aus. Genauso sind Ökonomie und Moral keine Widersprüche: beide dienen gleichermaßen dem Menschen und dem gelingenden Leben.

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Dieser Beitrag ist am 19. September 2020 zuerst auf dem Blog Der Debatte halber erschienen.

Mut zum Mut

Eltern die ihre Kinder lieben, neigen dazu, sie zu beschützen. Trotzdem dürfen sie diese nicht überprotektionieren. Das wichtigste Ziel ist schließlich, diese zur Selbstständigkeit zu erziehen.                

Irgendwas war anders mit den Flüchtlingskindern. Es dauerte eine Weile bis man es merkte: Wenn die Burschen mit ihren klapprigen Fahrrädern vom Sperrmüll um die Ecken sausten und lachend über die Bürgersteige schanzten, dann taten sie das mit einer Geschwindigkeit, einem Geschick und einer Freude, die man bei uns, zumindest im städtischen Raum, nur noch vereinzelt sieht. Unsere Kinder findet man selten alleine auf der Straße, dafür um so häufiger in Begleitung der Eltern, zum Beispiel im Café mit einem Kinder-Cappuccino in der Hand. Weil die Gespräche der Erwachsenen die Kleinen verständlicherweise langweilen, quengeln sie oder vertreiben sich die Zeit mit dem Smartphone. Das wiederum gibt den Erwachsenen einen willkommenen Anlass für einen kulturpessimistischen Diskurs: Man beklagt den Wandel der Zeit, und dass Kindheit früher etwas ganz anderes war. Da spielte man draußen im Dreck und nicht in einer zweidimensionalen, aseptischen Computerwelt. Das mag stimmen. Welche Kinder kämen heute noch schnell genug über den Zaun, wenn sie, die Taschen voll mit geklautem Obst, vom wutschnaubenden Nachbarn verfolgt würden?  Aber – ist das die Schuld der Kinder? Ist es deren Wille, mit den Eltern Kaffee trinken zu gehen oder sich Hand-in-Hand mit Mama und Papa die Schaufensterauslagen anzugucken? Wohl kaum. Es ist doch eher eine zwangsläufige Konsequenz der Rollen, die wir Erwachsene den Kindern und Jugendlichen unserer Zeit zudenken. Und die Kinder machen einfach das, was sie immer getan haben. Sie besetzen vertrauensvoll die Verhaltensnischen, die die Älteren für sie vorgesehen haben, bis sie diese in der Pubertät hoffentlich auch in Frage stellen. Deshalb kommt das verbreitete Wehklagen, die Kinder würden sich seltsam entwickeln und fragwürdige Verhaltensweisen an den Tag legen, wie ein Bumerang auf uns Erwachsene zurückgeflogen.

Was nun Rollen und Verhaltensnischen sowie die damit verbundenen Entwicklungsräume angeht, so haben sich diese in den letzten 30-40 Jahren tatsächlich grundlegend verändert. In diesem Zusammenhang fällt ein Aspekt besonders ins Auge: Freiräume, in denen Zeit selbstverantwortlich gestaltet werden kann, mit all den damit verbundenen Chancen aber auch Risiken, sind von der Wiege bis zum Studienabschluss selten geworden. Eine Ausnahme bildet vielleicht das sorgsam inszenierte Gap-Year, in welchem man nach dem Abitur wahlweise in Neuseeland Natursteinmauern aufschichtet oder in einem chilenischen Elendsviertel den Straßenkindern das Violine spielen beibringt. Ansonsten herrscht gerade in der Mittel- und Oberschicht ein engmaschiger Geist der Planung. Das mag vor der Hand vernünftig erscheinen: Wir sind jetzt alle Teil einer globalen Welt mit einem nie gekannten Konkurrenzdruck. Zeit zu vertrödeln, die Kinder und Jugendliche einfach sich selbst zu überlassen, scheint in diesem Lichte fahrlässig zu sein. Das ist eine mögliche Lesart.  Aber wie wäre es mit einer anderen? Die Welt ist für uns Erwachsene in ihrer weltumspannenden Komplexität so unübersichtlich und wenig greifbar geworden, dass wir ängstlich versuchen Inseln der Ordnung zu schaffen, um uns der Illusion hinzugeben, dass das Leben und der Erfolg konstruierbar seien. Anstatt Kinder zu ermutigen, sich mit zwangsläufigen Unwägbarkeiten einer hyperkomplexen und sich rasant verändernden Welt auseinanderzusetzen, auch auf die Gefahr hin, dass sie ab und zu mal auf die Nase fallen, planen wir das Leben unserer Kinder und Jugendlichen wie ein Haus, bei dem die Gewerke hoffentlich geschmeidig ineinandergreifen, gerade so, als wäre Lebenserfolg einzig das Resultat einer effizienten Organisation, in der der Zufall keine Rolle spielt. Krippenplätze werden von vorausschauenden Eltern schon gebucht, bevor die Kleinen auf der Welt sind, dann werden Kita und Beruf feinsäuberlich miteinander verzahnt. Und bei der Wahl der Kita wird darauf geachtet, dass kognitive Fähigkeiten, die später einmal wichtig sein könnten,  etwa eine Fremdsprache wie Englisch oder noch besser Chinesisch von kompetenten Erzieherinnen bereits geschult werden, wenn die Hosenmatze noch Windeln tragen. Dann bitte eine Ganztagesschule, garniert mit einer perönlichkeitsfördernden Zusammenstellung außerschulischer Hobbys wie Klavier, Ballett oder Tennis. Schließlich eine vollverschulte Universität, wobei die Eltern die Zimmer ihrer Zöglinge mit aussuchen, gemeinsam den Stundenplan checken und vor dem Einschreibetermin mit gerümpfter Nase das Mensaessen in Augenschein nehmen. Es sollte schon gewährleistet sein, dass die Kinder gut schlafen und was Vernünftiges in den Magen bekommen. Das Studium – ein lang ersehnter Aufbruch in ein selbstbestimmtes Leben? Das ist für viele Schnee von gestern.

Egal, welche Lesart man bevorzugt, kann man darüber nachdenken, ob die Schwerpunkte, die wir Erwachsene für Kinder und Jugendliche in Erziehung, Schule und Universität setzen, tatsächlich zu deren Bestem sind oder nur dazu dienen, unser Gewissen zu beruhigen und unsere eigenen Ängste zu lindern. Gut gemeint ist ja oft das Gegenteil von gut gemacht. Aber was wäre denn am besten? Obwohl Erziehungsstile und Bildungspolitik kontrovers diskutiert werden, liegt doch zumindest eine Antwort auf der Hand: Egal ob wir Eltern, Erzieher, Lehrer oder Professoren sind, vermutlich haben wir zumindest ein gemeinsames Ziel: Wir möchten Kindern und Jugendlichen Fertigkeiten, mentale Werkzeuge, soziale Kompetenzen und Könnensbewusstsein an die Hand geben, damit sie in der Lage sind, auch mit der Lebenswirklichkeit außerhalb von Elternhaus und Bildungseinrichtungen zurechtzukommen, um schlussendlich ein selbstbestimmtes und zufriedenes Leben führen zu können. Und das größte Unglück wäre doch wohl, wenn wir uns eines Betruges schuldig machen würden, indem wir ihnen in Erziehung und Bildung eine Wirklichkeit vorgaukelten, die mit dem echten Leben nach Abschluss der Berufsausbildung nichts zu tun hat. Provokativ formuliert: Die von uns mit guten Vorsätzen geschaffenen Schutzräume hätten dann eine vergleichbare Funktion wie ein Glashaus für eine wachstumsoptimierte Hollandtomate. Deren Gedeihen ist genau solange gewährleistet, wie der Wind nicht zu stark weht. Aber was passiert, wenn das Glashaus im Sturm zu Bruch geht? Dann gibt es ein schmerzhaftes Erwachen. Ist diese Sorge begründet? Oder völlig überzogen? 

Wenn man genauer hinschaut, mehren sich die Zeichen, dass wir uns leichtsinniger Weise die Welt in Erziehung und Bildung schön lügen. Und diese Form von Realitätsverleugnung macht Konsequenzen möglich, vor denen man mit Fug und Recht Angst haben darf. 

Ein zugegeben extremes Beispiel hat in jüngerer Zeit Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen geliefert: Frau von der Leyen möchte der fordernden Rekrutenausbildung bei der Bundeswehr mit ihren anstrengenden Gewaltmärschen die Härte nehmen. Jeder soll mitmachen dürfen. Zum einen möchte von der Leyen nicht, dass Frauen benachteiligt werden, zum anderen fällt es auch jungen männlichen Soldaten zunehmend schwerer, die geforderten Leistungen zu erbringen. Außerdem braucht die schrumpfende Bundeswehr dringend Personal und es gibt nach ihrem Verständnis in der Armee genug Aufgaben, bei denen man nicht durch den Schlamm rutschen muss. Das Problem? Nach der Meinung erfahrener Militärausbilder wären Soldaten und Soldatinnen dann auf reale Einsatzsituationen nicht mehr vorbereitet. Es wäre also nicht auszuschließen, dass das politisch korrekte Verhalten der Verteidigungsministerin im schlimmsten Fall fatale Konsequenzen hätte – wenn nämlich ein im Hindukusch groß gewordener Taliban noch behände liefe, während Soldaten der Bundeswehr auf einem Rückzug die Puste ausginge und gerade kein gepanzertes Fahrzeug zur Flucht bereit stände.

Doch unabhängig von einem solchen Extrembeispiel, Anzeichen einer vielleicht gut gemeinten aber trotzdem fragwürdigen Realitätsverleugnung zeigen sich auch in vielen anderen Lebensbereichen. Bleiben wir bei der oben gemachten Beobachtung:  Auf der Straße tobende Kinder, die ohne elterlichen Schatten ihre Zeit selbst bestimmen, sind im städtischen Raum Ausnahmeerscheinungen. Stattdessen? Betreutes Leben – 24 Stunden am Tag. Selbst Kinder im Alter von vier Jahren werden von ihren Eltern gerne gehoben und geschoben. Und das Abenteuer Schulweg wird auch nicht mehr allen zugemutet. Der Taxiservice der Eltern steht parat, besonders wenn das Wetter schlecht ist. Auch zuhause ist das Leben selten motorisch spannend und anregend. Da wird ebenfalls viel gesessen, günstigenfalls mit einem Buch in der Hand. Folgerichtig haben sich motorische Fertigkeiten der Kinder und Jugendlichen in unserer behüteten Welt ziemlich verschlechtert. Wenn vierjährige Kinder heute zu uns in den Tanzunterricht kommen, dann können sie oft nicht rückwärts laufen, es fällt ihnen schwer auf einem Bein zu balancieren oder sie trauen sich nicht von einer 20 Zentimeter hohen Treppenstufe zu springen. Wenn sie es dann doch wagen, werden sie von den anwesenden Müttern, die jeden Fortschritt der Kleinen akribisch beäugen, euphorisch beklatscht, als hätten sie einen 8000er ohne Sauerstoff bestiegen. Einen Purzelbaum zu machen halten dann aber viele Mütter und Kinder für eine unzumutbare Form von Akrobatik. Folgerichtig können sie es mit sieben Jahren immer noch nicht. Das gilt selbstverständlich nicht für alle Kinder aber leider für viele. Käme es zu einer vergleichbaren Deprivation im sprachlichen Bereich, dann würden die Kinder bei der Einschulung nuscheln und stammeln. Darüber hinaus wären sie nicht in der Lage, zusammenhängende Sätze zu sprechen. Man male sich den öffentlichen Aufschrei aus! Doch die nicht mehr selbstverständliche Fähigkeit, sich flüssig zu bewegen, scheint im Vergleich eher wenig Problembewusstsein und Handlungsdruck auszulösen. Aber wen wundert das? Gemäß einer Umfrage sind mehr als 50% der deutschen Kinder noch nie auf einen Baum geklettert! Dafür kennen sie Bäume aus abstrakteren Zusammenhängen. Sie wissen, dass sie notwendig sind, um CO2 zu binden und den Klimawandel abzuwenden. Eine wichtige Erkenntnis, aber mit dieser einseitigen Betrachtung bekommt der Wald etwas Museales und ist damit alles andere, nur kein aufregender Erlebnisraum für neugierige Kinder. Und wenn diese dann doch mal wagen möchten, einen echten Baum mit Händen und Füßen zu erklettern, dann können besorgte Eltern einen zertifizierten Baumkletterkurse buchen. Der ist natürlich teuer zu bezahlen. 

Jetzt kann man an dieser Stelle natürlich die ketzerische Frage stellen, ob wir diesen ganzen motorischen Schnickschnack überhaupt noch brauchen? Jede Zeit hat ihre eigenen Herausforderungen. Wir müssen schließlich nicht mehr mit der Spitzhacke Kohle aus einem Flöz schlagen. Wenn es heute wichtig ist, im Affenzahn mit der Computermaus über den Bildschirm zu jagen, warum macht es dann noch Sinn, zu klettern oder einen Purzelbaum zu schlagen? Vielleicht wird der Körper ja, wie uns einige digitale Propheten weis machen wollen, in Zukunft sowieso überflüssig. Wir lägen dann – wie in den Science Fiction-Filmen –  als Gehirne in einer handwarmen Lake aus Nährstoffen und sind mit der Welt nur noch mit Drähten verbunden. Oder die Information wird direkt aus dem Gehirn ausgelesen und in ein weltumfassendes Datennetzwerk eingespeist, das abstrakte Weltenhaus künftiger Generationen, ein digitaler Garten Eden.

Obwohl sich prominente Denker wie Ray Kurzweil – immerhin der Chefentwickler von Google – zu solchen Visionen versteigen, ist das sicher zu kurz gedacht. Deshalb lohnt es sich, genauer hinzugucken! Schließlich war und ist unser Körper seit Menschengedenken das wesentliche Werkzeug zum Welterwerb und wird es auch in Zukunft bleiben. Diese zentrale Einsicht lässt sich mit einem harmlos anmutenden Experiment verdeutlichen, das leider folgenschwere Konsequenzen hat: Was passiert mit einem Kätzchen, das gerade die Augen aufschlagen hat und welches man fortan durch die Welt trägt, anstatt es auf den eigenen Beinen neugierig seinen Lebensraum erkunden zu lassen? Das erschütternde Ergebnis: Das Kätzchen lernt das Sehen nicht – es bleibt blind! Wie ist das möglich? Die Augen waren doch offen?  

Das erstaunliche Resultat, das sich eines fast vergessenen Experiments des  Psychologen Richard Held verdankt, muss uns zu denken geben, wenn wir nicht nur über die Entwicklung von Katzen nachdenken sondern auch über die kleiner Kinder.  Was nämlich für Katzen gilt, das gilt für Menschen umso mehr. Je höher entwickelt ein Gehirn ist, desto weniger ist es bei der Geburt “fest verdrahtet“. Es entwickelt sich erst in der intensiven Auseinandersetzung mit der Umwelt, um schlussendlich optimal an diese angepasst zu sein! Dieser Entwicklungsprozess, der uns so selbstverständlich erscheint, dass wir nur wenig über ihn nachdenken, ist jedoch von abgründiger Komplexität. Eine Sache weiß man in diesem Zusammenhang allerdings genau: Man muss mit der Welt in ihrer ganzen Vielfalt interagieren, damit sich das Gehirn an diese Welt optimal adaptiert! Das ist der Dreh- und Angelpunkt. Die Komplexität dieser kindlichen Erfahrungsbildung sei an einem Beispiel verdeutlicht. Was bedeutet es, ein räumliches also drei-dimensionales Bild der Welt zu konstruieren? Machen Sie ein Gedankenexperiment! Schneiden Sie mit einem scharfen Messer einen Tischtennisball in zwei gleiche Hälften! Halten Sie diese mit der Wölbung nach Innen vor Ihre Augen! Jetzt haben sie eine ungefähre Vorstellung davon, wie die Bilder aussehen, die von den Linsen ihrer Augen auf die inwendigen Netzhäute projiziert werden. Da haben wir also zwei extrem verzerrte zweidimensionale(!) Darstellungen der außenliegenden Welt, die zu allem Überfluss wegen des Abstands der Augen noch nicht einmal identisch sind. Fachleute sprechen hier von binokularer Disparität. Aber, was sehen Sie? Sie erblicken zum Beispiel  einen majestätischen Baum, der sich wie selbstverständlich in alle drei Raumdimensionen erstreckt. Von verstörenden Doppelbildern und grotesken Verzerrungen keine Spur! Das ist eine ungeheuere Konstruktionsleistung Ihres Gehirns. Und wenn man schon nicht in allen Details weiß, wie dieser “Zaubertrick“ funktioniert, so ist zumindest eines klar: Um diese Leistung zu vollbringen muss man eifrig üben, denn das sich organisierende Gehirn braucht zum Feintuning die Auseinandersetzung mit der Außenwelt! In diesem Entwicklungsprozess gibt es Phasen, in denen Mobilität keine so große Rolle zu spielen scheint – schon im Alter von wenigen Monaten können Babys dreidimensionale Gegenstände offenbar als solche erkennen. Für andere Aspekte der räumlichen Wahrnehmung ist es allerdings unabdingbar, sich in der realen Welt zu bewegen, Dinge anzufassen, die man betrachtet, sie zu umlaufen und Erfahrungen mit ihnen zu machen. Tun Kinder das nicht, besteht die Gefahr, dass die Passivität einschneidende Folgen hat. Dieser Umstand ist experimentell belegt: Man zeigt einem kleinen Kind ein Spielzeug und versteckt es dann auf einem Tisch mit vielen anderen Sachen, so dass es das Spielzeug von seinem Standpunkt nicht sehen kann. Trägt man das Kind nun um den Tisch herum, sodass es das Spielzeug finden könnte, wenn es richtig hinsähe, dann entdecken viele der getragenen Kinder das Spielzeug nicht. Dürfen sie aber auf ihren eigenen Beinen um den Tisch laufen, finden sie es öfter. Bekannt ist auch das Experiment von Richard Walk und Eleanor Gibson. Bei diesem legt man eine stabile Glasplatte über einen Abgrund. Auf der einen Seite ist die Mutter, die das Kind zu sich locken möchte. Kinder mit wenig Bewegungserfahrung kriechen zielsicher auf sie zu und würden stürzen, wenn die Glasplatte sie nicht hielte. Kinder, die gewohnt sind, sich zu bewegen, machen diesen Fehler nicht. Sie verharren trotz der Lockrufe auf der sicheren Seite, weil sie den Abgrund erkennen und mental vorwegnehmen, was es bedeuten würde, hinunterzufallen. 

Vor diesem Hintergrund müssen wir eine provokative Frage stellen: Wie ist es zu bewerten, dass in Kindergärten Bäume gefällt werden und Erzieherinnen regresspflichtig gemacht werden, wenn ein Kind vom Baum fällt. Wäre es nicht besser, den Baum stehen zu lassen und den Kindern das Klettern beizubringen? Vor allen Dingen, weil gerade die am häufigsten stürzen, die nicht klettern können, genauso wie die Kinder häufiger ertrinken, die nicht in der Lage sind zu schwimmen.

Um zu erkennen, dass eine ausgeprägte Angst vor dem Risiko nicht nur individuelle Konsequenzen hat sondern auch gesellschaftliche, lenken wir unseren Blick kurz nach Amerika. In den USA laufen Eltern, die ihre Kinder zur Selbstständigkeit erziehen wollen, Gefahr, bestraft zu werden. Im schlimmsten Fall droht ihnen sogar, das Sorgerecht zu verlieren. Kinder alleine auf dem Weg zur Schule sind ein No-Go. Und eine New Yorker Mutter – Leanore Skenazy – die das partout nicht einsehen wollte und ihren Sohn alleine mit der U-Bahn fahren ließ, wurde mehrmals öffentlich zur schlechtesten Mutter des Jahres gewählt. Das Beispiel Amerika zeigt nun in aller Deutlichkeit, dass wir überbehütete Kinder nicht nur um elementare Welterfahrungen betrügen.  In den USA wurde nämlich ein wissenschaftliches Ergebnis publik, das aufhorchen lässt. Interessanter Weise ging es in diesem Zusammenhang nicht um das Wohl der Kinder und ihre Fähigkeit das Leben zu meistern. Ausschlaggebend waren ökonomische Befürchtungen! Im Fokus stand die seit Jahren schwindende gesamtgesellschaftliche Kreativität. Die renommierte amerikanische Kreativitätsforscherin  Kyung Hee Kim redet gar von einer ausgemachten Kreativitätskrise. Gemäß ihrer Untersuchungen hat die Fähigkeit der Kinder ungewöhnliche Ideen hervorzubringen seit 1990 rapide abgenommen. Darauf konnte man sich anfänglich keinen rechten Reim machen. Denn es gibt ja den bekannten Flynn-Effekt: Seit Generationen werden Jugendliche im Intelligenztest immer besser. Wenn man nun die Intelligenz, die diese Testverfahren angeblich messen, mit Erfolg im Leben gleichsetzen könnte, dann wäre alles in Butter. Dem ist aber leider nicht so. Ein hoher IQ korreliert hauptsächlich mit guten Schul- und Studienleistungen, sonst sind die Beziehungen eher dürftig. Selbst Nobelpreisträger und Schachgroßmeister müssen definitiv keine Mitglieder eines Hochbegabtenklubs sein. Der Nebel lichtete sich, als man genauer hinsah und die Kindheit vor 30-40 Jahren mit denen von heute verglich. Der wesentliche Unterschied? Damals gab es eben keine allgegenwärtigen elterlichen “Spielebestimmer“, die sorgsam darauf achteten, dass die Art der Beschäftigung und das gesellschaftliche Umfeld der intellektuellen Entwicklung und potenziellen Karriere zuträglich waren. Wenn Kindern langweilig war, dann lag es allein in ihrer eigenen Verantwortung, diesen Zustand mit einer guten Idee zu ändern. Und für Heranwachsende war es eine spannende Herausforderung, den eigenen Aktionsradius beständig zu vergrößern und die damit verbundenen Schwierigkeiten zu meistern. Das war aufregend und manchmal auch nicht ohne Gefahr. Zuerst die Straße vor dem Haus, dann Wald,  Wiesen und Bäche erkunden, Freunde finden, aber auch Menschen meiden, die einem nicht wohl gesonnen sind.  Wenn man sich die Freiheit auf diese Weise Schritt für Schritt erschließt, dann wachsen die Problemlösungskompetenz und das Gefühl herausfordernden Situationen gewachsen zu sein auf ganz natürliche Weise. Und ist es wirklich schwer zu verstehen, dass ein einfaches Spielzeug wie ein Stock, der in den Händen eines phantasiebegabten Kindes zum Schwert oder Hexenbesen wird, mehr Einfallsreichtum erfordert als eine bunte Transformerfigur aus Plastik, deren Bedeutung Regisseure und Spieleentwickler in ihren Skripten schon festgelegt haben? Kreativität und Mut braucht man also, um seinen Lebensraum zu erkunden, eigenständig Spiele zu erfinden und Lösungen für Probleme zu entwickeln. Damit wären wir dann aber auch direkt bei den Schlüsselkompetenzen freien Unternehmertums, für die man in Amerika mit seiner “Young man-go west!“-Mentalität sensibilisiert ist und die rasant zurückzugehen scheinen.

Kann es also sein, dass man mit dem gut gemeintem Überprotektionismus das Kind mit dem Bade ausschüttet? In letzter Konsequenz werden wohl nicht nur die Kinder geschädigt. Da Kreativität und Mut fehlen, leidet auch die gesellschaftliche Innovationsfähigkeit.  Und es lohnt sich in diesem Zusammenhang, über eine weitere Frage nachzudenken: Stehen die Kreativitäts- und Mutkrise, über die auch in Deutschland geklagt wird und die endemisch wachsende Zahl depressiver junger Menschen in einem Zusammenhang? Gemäß einer gerade erschienen Studie der Barmer Ersatzkasse sind 25 % der 18-25jährigen in Deutschland depressiv! Wenn man Kreativität als Fähigkeit auffasst, für Probleme Lösungen zu finden, diese Fähigkeit aber schwindet und gleichzeitig selbst auferlegte und vom Umfeld an die jungen Menschen herangetragene Anspruchshaltungen immer größer werden, dann könnte das tatsächlich einen verhängnisvollen Cocktail ergeben. Zu dieser Vermutung würde auch die Beobachtung passen, dass an den Universitäten kreative und nicht-angepasste Querköpfe immer seltener zu finden sind. Auf einer der letzten Nobelpreisträgertagungen in Lindau beklagten die Laureaten, dass von all den hochbegabten Studenten mit ihren Stipendien während der gesamten Zeit nicht eine vernünftige Frage gestellt worden war. Junge Wissenschaftler als brillant-biedere Erfüllungsgehilfen, aber von visionären Ideen keine Spur. Und die Volkswagen-Stiftung sucht für ihr Freigeister-Fellowship verzweifelt Promoventen, deren Arbeiten gegen den Strich gebürstet sind, um sie mit viel Geld zu unterstützen. Das Problem? Sie finden fast keine! Aber ist das verwunderlich in einem Wissenschaftssystem, das als Spiegel der Gesellschaft das Risiko meidet wie der Teufel das Weihwasser? Hätten ein Kopernikus, ein Kepler, Darwin oder Einstein heute noch die Möglichkeit, eine akademische Karrieren zu machen und wissenschaftliche Reputation zu erlangen? Das ist nur schwer vorstellbar. Wissenschaftlicher Erfolg hängt im gegenwärtigen Forschungsbetrieb vorwiegend vom Urteil Gleichgesinnter ab, die Arbeiten Gleichgesinnter beurteilen, die in Journalen Gleichgesinntes veröffentlichen. Ein hochgradig rückbezügliches System, das für große gedankliche Umbrüche wohl nicht das optimale Umfeld bietet. 

Die Angst vor dem Risiko, die wir schon in der Kindeserziehung so deutlich beobachten, hat also erhebliche Konsequenzen – individuelle und gesellschaftliche. Wenn man schon von Kindesbeinen an nicht unterstützt wurde, sich belastenden Situationen zu stellen, dann wird sich die Schlüsselkompetenz, mit Einfallsreichtum und Zuversicht Herausforderungen anzugehen, nicht entwickeln. In der Folge wird man solche Situationen logischerweise meiden, da man sich ihnen nicht gewachsen fühlt und sie einem Angst einjagen. Und die Angst wird zu einem Lebensgefühl, wenn man dann mit Erschrecken feststellt, dass das Leben nach der Ausbildung mit dem wohltemperierten Glashaus der frühen Tage wenig bis gar nichts zu tun hat. Wenn eine einzige Stelle zu vergeben ist und sich 50 Leute bewerben, dann wird es genau 49 lange Gesichter geben. Sollen wir dann denen, die keinen Arbeitsplatz bekommen, wie in manchen Schulen eine tröstende Urkunde geben? “Herzlichen Glückwunsch zum 49. Platz, das hast Du toll gemacht! Wir danken Dir für Deine Teilnahme“ Diese Wirklichkeitsverweigerung, die dem Kind angeblich Frustration ersparen soll, ist in einem realen Kontext albern und verantwortungslos. Wenn wir unseren Kindern nicht helfen Mut und Kompetenz und damit verbundenes Selbstbewusstsein zu erlangen, dann sind spätere große Enttäuschungen vorprogrammiert. Wäre es deshalb nicht besser in Schule und Erziehung Kinder und Jugendliche an Herausforderungen heranzuführen und ihnen zu helfen mit diesen und zwangsläufig auftretenden kleinen Rückschlägen umzugehen? Das wäre vernünftig, vor allen Dingen, wenn man in Rechnung stellt, dass die mittlerweile verbreitete Glashausmentalität eine virale Komponente hat. Wenn man selbst nicht gelernt hat, kreativ zu improvisieren, Gefahren und Belastungen auszuhalten und solche Situationen deshalb als angstbesetzt erlebt, dann wird man solche fordernden Momente sicher nicht den eigenen Kindern zumuten. Da bleibt nur zu hoffen, dass diese selbst irgendwann den erstickenden Schutzraum, der aus unserer eigenen Angst gebaut ist, mutig mit einem Stein von Innen zerschmeißen. Denn die Sicherheit ist trügerisch und in letzter Konsequenz gefährlich. Wie heißt es im Volksmund? “Je mehr man plant, desto härter trifft einen der Zufall“ Aus diesem Grund kann es gerade in der Erziehung von Kindern und Jugendlichen ein Ausdruck echter Liebe sein, ihnen die Lösung bestimmter Probleme einfach selbst zu überlassen, auch wenn das anfänglich mit Schwierigkeiten verbunden ist. Wenn junge Menschen etwas nicht brauchen, dann sind es Mensavorkoster und akribische Studienplanüberwacher. 

Die Welt ist keine Scheibe

Es gibt viele Dinge, die man nicht lernt, wenn man viel Zeit vor den Bildschirmen von Fernsehern und Computern verbringt

Wir schmunzeln über die Seefahrer, die vor etwa 500 Jahren nach Westen aufbrachen und von rasender Angst gepeinigt waren. Viele glaubten, die Erde wäre eine Scheibe und wenn man sich zu weit hinausbewegte, würde man mit seinem Schiff in einen brodelnden Abgrund fallen. Heute wissen wir es besser: die Erde ist eine Kugel. Es gibt keinen Abgrund. Finden wir es genauso zum Schmunzeln, wenn heute ein Großteil der Menschen die Welt zu einer Scheibe macht, obwohl sie eine Kugel ist? Sicher, in Zeiten von Corona ist der Computer zwangsweise das Kommunikationsmittel der Wahl. Doch auch in weniger aufregenden Zeiten ist es für für viele normal, einen großen Teil des Tages vor einem zweidimensionalen Bildschirm zu verbringen. Es gibt gute Gründe am Sinn dieser Normalität zu zweifeln. Aber Vorsicht! Man läuft Gefahr als Hinterwälder beschimpft zu werden, wenn man den exzessiven Umgang mit Fernsehen, Computer und Smartphones kritisiert. Viele wollen schließlich schnellstmöglich in die Zukunft rasen. Verständlich, dass technikaffine Manager wie Timotheus Höttges von der Telekom dafür plädieren, Kindern am besten schon in der Vorschule Grundlagen des Programmierens beizubringen. Das mag vernünftig erscheinen, wenn man es als vorrangiges Erziehungsziel betrachtet, junge Menschen so zu formen, dass sie mit ihrer digitalen Expertise die Konkurrenzfähigkeit des Industriestandorts Deutschlands sichern. Vertritt man den Standpunkt, dass das Leben aus mehr als Nullen und Einsen besteht und es darum geht, junge Menschen zu ertüchtigen, ihr Leben in Eigenverantwortung zu gestalten, dann darf man an diesem Ziel Zweifel äußern. Hier prallen Weltanschauungen aufeinander. Gerne weisen digitale Adepten darauf hin, dass es kompliziert sei, zu beweisen, dass etwa ausgedehnter Computergebrauch nachteilig wäre. Im Gegenteil: Kinder die sechs Stunden am Tag am Computer zocken, zeigen ein besseres Reaktionsverhalten und auch die Finger, die im Stakkato die Konsole bearbeiten, sind im Gehirn besser repräsentiert als die einer Vergleichsgruppe. Solchen Verteidigungsbemühungen muss man allerdings eine wissenschaftstheoretische Binsenweisheit entgegenhalten: Messen und bewerten lässt sich nur, was sich messen und bewerten lässt! Diese Einsicht hat gerade für viele komplexere Fragestellungen der Psychologie und Kognitionswissenschaften Konsequenzen, da sich diese nicht ohne weiteres in ein angemessenes Experimentaldesign pressen lassen. Man denke an die umjubelten bildgebenden Verfahren, mit denen man die Hirnaktivität bei einer bestimmten Aufgabenstellung misst. Leider muss man reglos in einem Tomographen liegen! Genau aus diesem Grund lässt sich mit diesem Messverfahren zum Beispiel wenig über Menschen in Bewegung herausbekommen. Man kann nicht mit einer solchen tonnenschweren Maschine auf dem Kopf durch die Welt tanzen. Das beherrschbare Experimentalszenario bestimmt also den Raum beantwortbarer Fragen. 

Wenn es nun für bestimmte komplexe Fragestellungen keine detaillierten Antworten existieren, dann heißt das nicht, dass es sie nicht gibt. Vielleicht liegen sie einfach außerhalb der momentan verfügbaren wissenschaftlichen Möglichkeiten. In solchen Fällen ist begründetes Argumentieren erlaubt und notwendig. Was lässt sich dazu sagen, dass sich Milliarden von Menschen den halben Tag mit zweidimensionalen Modellwelten auseinandersetzen?

Da steht an erster Stelle die Einsicht, dass Menschen sehr effizient funktionieren. Fertigkeiten, die wir üben, entwickeln sich. Alles, was nicht gebraucht wird, bildet sich zurück: “Use it or lose it“.  Dieses Prinzip ist fundamental. Es gilt für Kleinkinder genauso wie für Greise. 

So ist es eindrücklich, dass Säuglinge zu Leistungen in der Lage sind, die uns Erwachsene überfordern. Sie können zum Beispiel alle Sprachlaute dieser Erde unterscheiden. Ihr Gehirn ist überbestimmt. Es gibt anfänglich mehr synaptische Verbindungen zwischen den Neuronen als später gebraucht werden. Das ist evolutionär sinnvoll. Ein Kind kann als Inuit auf die Welt kommen oder als Indio. Es muss gewährleistet sein, dass es sich seiner Kultur optimal anpasst. Richtet sich sein Fokus nun auf die ihn umgebenden Sprachlaute, dann bedingt das “Use-it-or-lose-it-Prinzip“, dass es sich für genau diese sensibilisiert. Die Fähigkeit, andere Laute zu diskriminieren, verschwindet. Aber nicht nur Babys sind anpassungsfähig. Pflegeheimbewohner, die beginnen, mit Hanteln zu arbeiten, verdoppeln in kurzer Zeit ihre Kraft und selbst kognitive Fähigkeiten lassen sich im Alter trainieren.

Welche Fertigkeiten werden bei Kindern gefördert, die vor einem Bildschirm sitzen? Wenn das Programm anspruchsvoll ist, lernen sie einer inszenierten Handlung zu folgen. Informieren sie sich im Internet, werden sie klüger. Wenn sie zocken, entwickelt sich eine spezifische Auge-Hand-Koordination. Was für Fertigkeiten aber werden vernachlässigt, sodass die Gefahr besteht, dass sie verkümmern oder sich gar nicht erst entwickeln? Da gibt es an erster Stelle ein sinnliches Defizit: Aus Monitoren dampfen keine Gerüche, man schmeckt nichts und aus der Mattscheibe kommen keine Hände, die einen berühren. Außerdem ist der innere Sinn, die sogenannte Propriozeption, beim Sitzen in einer Art gelangweilten Stand-by-Modus. 

Noch eindrücklicher ist das interaktive Defizit. Hier muss uns ein Experiment des Psychologen Richard Held aus dem Jahre 1962 als Warnung dienen. Er zeigte, dass ein Kätzchen, das die Augen gerade aufgeschlagen hat, blind bleibt, wenn es nicht auf den eigenen Beinen herumlaufen darf und man es stattdessen durch die Welt trägt! Gerade die Entwicklung der Tiefenwahrnehmung ist auf Bewegung angewiesen. Deshalb stürzen die Kinder eher selten, die die viel auf Bäume klettern. Verletzen tun sich oft die, die noch nie auf einem Baum gewesen sind und es dann einmal versuchen. 

Das interaktive Defizit hat aber auch noch eine abstraktere Komponente: Der Bewegungsraum ist ein Bedeutungsraum! Dinge bekommen nicht allein dadurch Bedeutung, dass wir sie passiv betrachten. Mitentscheidend sind Handlungserfahrungen! Was ein Ball ist, weiß nur, wer mit Bällen gespielt hat, der weiß wie sie rollen, wie sie hüpfen und wie sie sich fangen lassen. Das erfährt man sicher nicht dadurch, dass man mit den Augen einer zweidimensionalen Projektion eines Balls auf einem Bildschirm folgt. Warum? Damit sind wir beim wichtigen Thema der Simulation. Das menschliche Gehirn ist eine hochkomplizierte Simulationsmaschine, die man allerdings gebrauchen und kallibrieren muss, damit sie funktioniert. Warum kann man Bälle fangen? Weil das trainierte Gehirn die Flugbahn schneller berechnet, als der Ball fliegt, sodass man sich rechtzeitig positionieren kann. Welche Konsequenzen es hat, wenn man körperliche Fertigkeiten nicht mehr übt, erleben wir gerade in der Ausbildung künftiger Chirurgen. Den digital natives müssen an der Universität einfachste Handfertigkeiten beigebracht werden. Andernfalls wären sie nicht in der Lage, mit Nadel und Faden eine Naht zu ziehen. Das ist ein neues Phänomen. Basteln ist out.

Elementar aber trotzdem komplex ist auch die soziale Simulation. Betrachten wir ein gewöhnliches Gespräch! Bei diesem werden nicht nur Worte ausgetauscht. In jedem Gespräch gibt es eine sublime Aura körpersprachlicher Signale, die von den Gesprächspartnern meist unbewusst gesendet und empfangen werden. Die Lautstärke der Stimme, die Stimmlage, die Art und Weise Pausen und Betonungen zu setzen, das Minenspiel, der Gesprächsabstand, die Körperhaltung, .. . All diese Signale sind wichtig, das Gehörte zu interpretieren. Dieser Prozess ist wiederum davon abhängig, was in der Vergangenheit bereits gesprochen wurde! Es gibt also zwischen Gesprächspartnern eine interdependente Semantik, die nur diese fühlen und und in Maßen zu deuten wissen. Was hat das mit Simulation zu tun? Angenommen, man möchte im Gespräch einen heiklen Punkt ansprechen, ohne den anderen zu verletzen. Man muss seine Worte also mit Bedacht wählen. Bevor man den Mund aufmacht, versucht man deshalb, sich in die Rolle des anderen hineinzuversetzen und simuliert, wie er sich fühlen würde, wenn man den intendierten Satz ausspricht, was nur vor dem Hintergrund des gemeinsam Erlebten möglich ist.

Wahrscheinlich ist diese soziale Simulation die anspruchsvollste Leistung des menschlichen Gehirns überhaupt und Kinder müssen dieses schwierige Wechselspiel in realen Gesprächen ausdauernd üben, um kompetente und einfühlsame Sprecher zu werden. Entscheidende Teile dieses Wechselspiels finden aber nicht statt, wenn Menschen vor Computern oder Fernsehern sitzen. Da ist niemand, der reagiert, da ist niemand, mit dem man eine persönliche Geschichte kreieren kann. Deshalb steht zu befürchten, dass sich diese wichtigen Fertigkeiten bei Kindern nur unzureichend entwickeln oder bei Erwachsenen degenerieren. Beschränkt man die Zeit vor dem Bildschirm auf wenige Stunden am Tag, ist vermutlich kein Schaden zu befürchten. Sind es aber sechs bis zwölf Stunden, müssen bei uns die Alarmglocken schrillen und wir sollten uns die Frage stellen, warum wir die Welt zur Scheibe machen, obwohl wir wissen, dass sie eine Kugel ist.

Die Macht der Meme

Die banalen Verschwörungstheorien der Coronagegner sind mindestens so infektiös wie das Virus und könnten dafür sorgen, dass die Pandemie wieder Fahrt aufnimmt. Die Vereinfachung komplexer Sachverhalte ist gefährlich

Um den englischen Säulenheiligen Isaac Newton öffentlich zu kritisieren, brauchte man zu Beginn des 19. Jahrhunderts Mut oder Größenwahn. Der junge Charles Babbage besaß beides. Als Student in Cambridge stieß er sich an der von Newton verwendeten umständlichen Notation, in der dieser die Infinitesimalrechnung dargestellt hatte. Der Deutsche Gottfried Wilhelm Leibniz hatte das eleganter gelöst. Das Undenkbare geschah. Babbage und ein paar Kommilitonen gelang es, den Widerstand der britischen Traditionalisten zu brechen. Die Notation setze sich auch auf der Insel durch! Wie konnte das geschehen? Als Erklärung könnte eine Theorie des britischen Evolutionsbiologen Richard Dawkins dienen, die sich auch auf gegenwärtige Verschwörungstheorien übertragen lässt. Dawkins erfand den Begriff des Mems. Während das Gen die Replikationseinheit der biologischen Evolution ist, unterstellte Dawkins, dass das Mem als Replikationseinheit der kulturellen Evolution fungiert. Als Beispiele für Meme nennt Dawkins: „Ideen, Melodien, Gedanken, Schlagworte, Kleidermoden, die Kunst, Töpfe zu machen oder Bögen zu bauen“. Dem sei hinzugefügt, dass auch das Bedürfnis, Dinge einfacher und effizienter zu gestalten, Ursache memetischer Replikation ist. Deshalb stand selbst in England die umständliche Newtonsche Fluxionsrechnung auf verlorenem Posten und musste dem Kalkül von Leibniz weichen. Solche gedanklichen Elaborate kann man metaphorisch als Viren des Geistes bezeichnen. Sie springen durch Kontakt von Mensch zu Mensch. Wie schnell sie sich in den Köpfen verbreiten, ist von vielen Faktoren abhängig: den Kommunikationswegen, der Kommunikationsgeschwindigkeit und  der Viralität. Der Begriff der Viralität, der im Kontext der sozialen Medien verwendet wird, lehnt sich an das biologische Vorbild der Infektiosität an. 

Viral werden Gedanken oder der Austausch von Fertigkeiten, wenn sie starke Bedürfnisse zu befriedigen versprechen. Solche Bedürfnisse können profaner Natur sein. Man denke an Neugier oder Schadenfreude. Aber auch der Wunsch mit raffinierten Tricks Arbeit zu vermeiden, findet Anklang. Dabei geht es heute wie damals nur selten darum, einen eleganten mathematischen Formalismus zu finden. Meist stehen Alltagsfertigkeiten wie Kochen, Backen oder Handwerken im Mittelpunk. Wie schält man mühelos einen Ananas? Doch unser Bedürfnis, Dinge zu vereinfachen, birgt auch eine Gefahr. Man muss sorgfältig zwischen Fertigkeiten und Erklärungen unterscheiden! Bei Erklärungen gibt einen gefährlichen Graben, der das Geniale vom Trivialen trennt. Wie sagte Einstein? “So einfach wie möglich aber nicht einfacher!“ Auch beim Erklären sind Effizienz und Einfachheit eine Ursache für Viralität. Es ist aber ein grundlegender Unterschied, komplexe Phänomene in einer reduzierten Gestalt zusammenzufassen oder Komplexität in einer einfachen Form zu banalisieren und damit zu negieren. Ein herausragendes Beispiel für die erstgenannte Tugend sind die Maxwell-Gleichungen der Elektrodynamik -vier elegante Formeln mit denen sich ein immenser Bereich physikalischer Phänomene beschreiben lässt. Solche Meisterstücke der Denkkunst sind das Ergebnis einer langen Anstrengung. Die Kunst besteht darin, das Irrelevante auszuschließen. Information durch Exformation. Der fatale Hang Wesentliches nicht vom Unwesentlichen zu unterscheiden und Komplexität aus Denkfaulheit auf Banalitäten zu reduzieren, ist genau das Gegenteil. Das erinnert an die Verlautbarungen der Verschwörungstheoretiker in der Corona-Krise. Diese schämen sich nicht, eine schwierige und unübersichtliche Situation, die zumindest in Teilen wissenschaftliches Neuland ist, in einer durchsichtigen Räuberpistole zu trivialisieren: Bill Gates, der klandestine Strippenzieher auf der Weg zur Weltherrschaft. Man könnte versucht sein, eine solche Form der Naivität zu belächeln. Aber leider erfüllen auch diese Geschichten ein tiefliegendes Bedürfnis nach Einfachheit. Deshalb sind sie gefährlich.Warum kommen sie überhaupt zu Stande? Dem Phänomen könnte ein von dem Neurowissenschaftler Michael Gazzaniga untersuchter Mechanismus zugrunde liegen. Trotz widersprüchlicher Informationen neigen Menschen dazu, diese in einer nur für sie selbst konsistenten Geschichte zusammenzudenken, auch wenn sie im Resultat wenig mit der Wirklichkeit zu tun hat. In Ermangelung besserer Alternativen greifen sie dabei gerne auf Erklärungsprinzipien zurück, die ihnen persönlich geläufig sind. Wenn Exponentialfunktionen, Wahrscheinlichkeiten und statistisches Grundwissen nicht zum intellektuellen Werkzeugkasten gehören, dann ist nachvollziehbar, die sie in sich selbst erlebten Gefühle und Wirkmechanismen der Außenwelt als “Erklärung“ überzustülpen. Das ist ein rudimentäres Kausalprinzip, das man schon aus dem animistischen Denken kennt. Obwohl solche defizitären Erklärungen leicht zu erkennende Mängel haben, muss man ihnen mit Respekt begegnen. Sie sind hochinfektiöse Meme, die sich mit Lichtgeschwindigkeit im Internet ausbreiten und in kritiklosen Köpfen einen fruchtbaren Nährboden finden. Als Brandbeschleuniger gesellt sich zu fataler Leichtgläubigkeit noch intellektueller Hochmut. Man redet sich ein, Teil einer Elite zu sein, die das “System“ durchschaut. Deshalb gehört man nicht zu den einfältigen Marionetten, die von arglistigen Puppenspielern manipuliert werden. 

Das ist ein gefährlicher Cocktail aus Kompetenzillusion und Selbstgefälligkeit, der  narkotisierend wirkt. Und der Rausch könnte uns alle betreffen. Es wäre fatal. wenn aus der Viralität gefällig-eingängiger Ideen die reale Infektion mit Viren erfolgt, da  grölende Teilnehmer auf den Anti-Corona-Demonstrationen nicht nur ihre Meme in der Welt verbreiten sondern auch ihre Viren. 

Marco Wehr ist Physiker und Philosoph in Tübingen